Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)
am Computer. Am Drehbuch. Ich bin nicht ganz unempfänglich für dessen absurde Reize. Ich phantasiere Bilder auf die Leinwand, und diese Bilder sind Bilder meiner geheimsten Leiden. Lösche ich mich mit der Veröffentlichung dieser Bilder aus? Oder erwecken mich diese Bilder zum Leben? Da
ich
ja immer weniger
bin
. In mir verkörpert sich nur der sonderbare Drang, der zu ständiger Mitteilung zwingt – aber wen zwingt er? Über wen schreibe ich? Über wen spreche ich? – Ein merkwürdiger Daseinszustand.
26 . Juli 2001 Gestern am Telefon mit Földényi noch einmal die oben berührte Problematik. Es ging um die «atonale Kunst» nach Auschwitz. Was dann mit dem Subjekt ist. Ob es existiert. Als Person existiert es meines Erachtens nicht. Es besteht aus Automatismen, dem Drang – also dem Willen – zu überleben und aus Sprachbrocken. Aber die Kohärenz, ein alles zusammenhaltender existentieller Kern, von dem die Geschehnisse ausgehen und ihren Lauf nehmen, sowie ein zusammenfassendes, sich in Ethik, Erkenntnis und objektive Erfahrung verzweigendes logisches Zentrum fehlen. –
Interessant, wie gern der konservative, veraltete künstlerische Stil im Gewand irgendeines Modernismus auftritt (z.B. der sogenannten «postmodernen Literatur»).
28 . Juli 2001 Die Katastrophe kündigt sich zweifellos zum ersten Mal bei Beethoven an. Die aus den Tiefen der Gebrochenheit aufsteigenden langsamen Sätze … Doch die Finales streben noch nach einem Gleichgewicht; die letzten Streichquartette und dann das op. 106 finden zur Fuge, und darin liegt, trotz der anscheinend letzten mathematischen Weisheit, etwas Verzweifeltes. – Nebenbei würde ich bei Bartók, wenn es überhaupt einen Einwand gibt, den falschen Optimismus seiner Tanzsätze bemängeln.
Aber worin besteht die Katastrophe? Tatsächlich im Newtonschen Weltbild, wie Miłosz meint? Die Geschichte, daran besteht kein Zweifel, findet für nichts eine Erklärung. Solche apokalyptischen Versuche wie Auschwitz oder den Gulag mit ökonomischen Ursachen oder rückständigen gesellschaftlichen Strukturen zu erklären, ist in der Tat fast lächerlich. Genauso unersprießlich sind Psychologie, Soziologie und jedwede Gesellschaftswissenschaft. Wie soll man die apokalyptischen Taten, Verhaltensweisen, Entartungen von hochentwickelten Gesellschaften dann erklären? Und wie die Feigheit West-Europas? Die Politik kann für alles als unmittelbare Begründung dienen. Aber was treibt die Politik an? Letzten Endes sind die großen Visionen, wie die eines Spengler oder meinetwegen auch der Bibel, noch die ehrenwertesten Versuche. Die träumerischen Weltordnungen der großen Mystiker, die geheimnisvollen Tiefenwelten der alten Mythen – darin liegt etwas vom Verhängnis des Menschen verborgen; im Vergleich dazu ist die wissenschaftliche Sichtweise, trotz ihres Apparats, ihres Wissens, ihrer Erfolge, von kindlicher Naivität.
Oder muß man die Katastrophe als etwas «natürlich» Wiederkehrendes begreifen? Zum Beispiel die Katastrophe des Mongoleneinfalls im 13 . Jahrhundert. Für die Mongolen war es ja keine Katastrophe. Wir hingegen kennen diesen Einfall als Katastrophe, denn die Geschichte wird nicht von den sie verursachenden, sondern den von Katastrophen betroffenen Völkern geschrieben. Was schreiben die Mongolen darüber? Wir wissen es nicht. Vielleicht war er für sie ein Anfang, der Anfang eines Triumphes, einer kulturellen Entwicklung – oder hätte ein solcher sein können, wäre er nicht durch den Tod des großen Khans zum Abbruch gekommen. Ist der Mongoleneinfall also eine Katastrophe oder nicht? Für den einen ja, für den anderen nein. Eine schreckliche Wahrheit, weil man die Katastrophe schließlich als das sehen muß, was sie ist: eine Katastrophe. Halten wir also fest, daß wir nur dort von Katastrophe sprechen können, wo wir uns über den Begriff, die kulturelle Bedeutung und Bedeutsamkeit des Wortes im klaren sind. Der Zusammenbruch der europäischen Kultur ist eine Katastrophe – wenn freilich keine kosmische Katastrophe; vielleicht noch nicht einmal eine europäische.
Ist er für dich eine Katastrophe? Ja. Dann schreib so darüber. Mit allen Konsequenzen.
Ich will keine Lösung, ich will das Massengrab, das zwischen mir und der Welt klafft, nicht zuschütten.
Das Enkelkind. M.s leidenschaftliche Großmutterschaft. Mir fehlt nahezu jedes Verständnis dafür. Merkwürdig, mich hat die Fortpflanzung nie beschäftigt, und ich sehe auch die angebliche
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