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Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)

Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)

Titel: Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Imre Kertész
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Macht des Fortpflanzungstriebs nicht.
    31 . Juli 2001  Die Romantik des Naturalismus … Denn der Naturalismus ist nichts anderes als forcierte Romantik. Die Trostlosigkeit beginnt im Grunde genommen dort, wo die Romantik, jewede, auch die verborgene Romantik zu Ende ist.
    Nun, und die sogenannte Klassik? Aber wer sagt denn, daß Goethe z.B. nicht romantisch ist? Nur weil er selbst sich dagegen verwahrt hat? Und Flaubert? Schließen Enttäuschung und Nüchternheit vielleicht die Romantik aus? Ach wo …
    Dann wäre also, könnte man sagen, jede große Kunst, jede bedeutende Stilrichtung für dich romantisch? Aber natürlich, würde ich antworten. Es gibt zwei Arten von Kunst: romantische und schlechte Kunst …
    1 . August 2001  Du lebst in einem feindlichen Land, einer feindlichen Umgebung; immer mußtest du verheimlichen, wer du bist, und dennoch bist du zu dem geworden, der du bist. 72 Jahre währt dieser Prozeß. Sie hassen dich, weil du Jude bist, sie hassen dich, weil du glücklich bist, sie hassen dich, weil du anderswo geschätzt wirst – sie hassen dich, weil du existierst. Sich dem Tag für Tag entgegenzustellen: das ist wie tägliche Gymnastik. Ein hartes Training, geistig gesprochen. Wie mag es sein, in einer Umgebung zu leben, in der man dir Liebe oder zumindest wohlwollende Gleichgültigkeit entgegenbringt, in der achtbare Männer und Frauen, die nicht stehlen und nicht lügen – oder es zumindest in geringerem Maße tun –, die Gesellschaft lenken, wo man also menschenwürdig leben könnte? Ich würde mich an einem solchen Ort vielleicht wohl fühlen, wahrscheinlich aber verweichlichen.
    4 . August 2001  Ich beginne mit den Vorbereitungen zum Verlassen dieses Landes. Meine Frau geht mit mir mit. Wenn es gelingt, erfüllt sich nur, was schon lange notwendig ist und sich schon lange – man könnte sagen, seit urdenklichen Zeiten – in mir vorbereitet (die urdenklichen Zeiten natürlich in den Dimensionen eines Menschenlebens verstanden).
    Es ist in Ungarn möglich, über den Holocaust, selbst über die Kunst des Holocaust zu sprechen, ohne daß mein Name dabei erwähnt würde. Als hätte ich auf diesem Gebiet nie etwas geleistet. Was haben sie mit mir? Erstens: persönlicher Haß und Neid. Zweitens: meine radikale Denkweise. Drittens: daß ich über Erfahrungen verfüge und nicht zu belügen bin: Ich war dort, und das hält eine jüngere, gänzlich unbegabte, aber um so ehrgeizigere Generation von Holocaust-Lügnern, die von Sentimentalität, dem Assimilationsdiktat und geschäftlichem Gewinnstreben ausgeht, für höchst geschäftsschädigend.
    In Ungarn mag man nicht, daß es mich
gibt
, eine Tatsache, die Enzensberger in seiner ergreifenden Laudatio gerade als so erfreulich begrüßt hat.
    In Ungarn liebt man die Juden nicht, und die ungarischen Juden lieben mich nicht.
    6 . August 2001  Wieder die Frau Prophetin, der weibliche Guru des Holocaust. Das braune, zum Holzschnitt verdorrte Indianergesicht, die Hakennase starr aufs Publikum gerichtet (auf die Zuschauer: es ist vom Fernsehen die Rede), legte sie dar, daß der Holocaust kein geschichtliches Ereignis und nicht zu verstehen sei.
    Dieses «nicht zu verstehen» ist das, was ich nie verstanden habe. Wieso sollte er nicht zu verstehen sein? Die Sache ist schließlich ganz einfach. Ein monomanisch Besessener reißt die Staatsmacht an sich, die wahren Gebieter über Macht und Kapital sehen in ihm und seinen Prinzipien plötzlich die große Chance, und der Pöbel lebt seine eigentlichen Neigungen aus, seinen Haß, seinen mörderischen Sadismus, seinen Untertanengeist, seinen Pseudoheroismus, und vor allem kann er alles stehlen, was man ihn stehlen läßt. Und warum wurden gerade die Juden zu diesem Zweck ausgewählt? Nun, weil sie am besten dazu geeignet und am einfachsten zu benennen sind, nachdem die zweitausend Jahre anhaltende Haßarbeit der Kirche bereits alle Schablonen für die freie Entfaltung mörderischer Triebe ihnen gegenüber geformt hat. (Raul Hilberg hat aufgezeigt, daß die Nazis zur Praxis der katholischen Kirche lediglich die Technik der «Endlösung» hinzugefügt haben: Auschwitz.) Was ist da nicht zu verstehen? Daß Rousseau zufolge die Natur des Menschen anders ist? Mein Gott, Rousseau hat sich geirrt; er konnte ja nicht einmal seine eigene Natur beurteilen.
    Ich glaube, die Propheten und Prophetinnen solcher Ideologien und solcher Filme sind das Haupthindernis, daß die Menschen wirklich Empathie für die große

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