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Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)

Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)

Titel: Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Imre Kertész
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schweigt, keine Musik und keine Kunst sei. Dazu bedarf es aber nicht der – wie die Marxisten sagen würden –
objektiven, unabhängig von uns existierenden Wirklichkeit
Gottes, da es eine unabhängig von uns existierende Wirklichkeit – wenigstens für
uns
– gar nicht gibt.
    Gestern Spaziergang über die Budakeszi-Straße. Drückende Hitze, wie in den Sommern vergangener Zeiten. Mir kamen die endlosen Spaziergänge in den Sinn, die ich in jungen Jahren in den Wäldern von Buda gemacht habe. Ich lief stundenlang und wartete auf irgendein Wunder. Die Lösung. Ja, jetzt, auf diesem Spaziergang finde ich, oder besser: ergibt sich die Lösung. Für einen Text oder für mein Leben – egal, nur gehen und warten. Das Gehen bedeutete irgendwie Flucht, nirgendwo sein. Ich kann mir heute nicht mehr vorstellen, wie ich diese fruchtlosen Jahre ausgehalten habe, die vielleicht gar nicht fruchtlos waren. Daß ich sie seelisch aushielt, daß ich sie nervlich aushielt und nicht in Verzweiflung geriet. Verbittert war ich, aber nicht verzweifelt. Und wie hielt ich es mit A. aus, und wie sie mit mir? Ich erinnere mich an gar nichts mehr, bin nicht imstande, mein früheres Selbst heraufzubeschwören. Irgend etwas Großes reifte in mir, ich wußte aber nicht, was es war. Und ich empfand es auch nicht als das Reifen von etwas Großem, ich hätte nur gern eine Richtung für mein Handeln gefunden. Hätte ich damals Buch geführt, wäre ich heute vielleicht überrascht, weil ich wahrscheinlich über sehr ähnliche Probleme nachgedacht habe, nur in einer ganz anderen Situation. Aber ich würde gewiß die Kohärenz und Kontinuität entdecken, die mir heute fehlt.
    9 . August 2001  Miłosz gelesen, der vom Ulro-Land spricht: Ganz gleich, wie wir die Welt und ihre Erscheinungen benennen, immer kommen wir zum gleichen Ergebnis: Ob wir von Katastrophe oder Apokalypse, von Kulturkrise, Globalisierung oder Ulro reden – in jedem Fall können wir nur vom Ende sprechen. Das bezieht sich allerdings ausschließlich auf die europäischen Sprachen und die europäische Kultur. Mag sein, daß sich für gewisse australische Stämme die Welt seit einigen tausend Jahren überhaupt nicht verändert hat; daß sie in größerem Maßstab ausgerottet wurden, hat das Katastrophengefühl aber vielleicht sogar bis in ihre Welt durchsickern lassen.
    Ursache und Träger der Katastrophe – und das ist inzwischen mehr als ein Gemeinplatz – ist das Produkt der Massendemokratie, der neue Mensch. Zum Beispiel ich. Ich bin unglaublich flexibel – ich bin nirgendwie. Ich bin ohne Eigenschaften, wie Musil sagt, ohne Schicksal, wie Kertész sagt. Kertész, der Schriftsteller, ist mir ebenso fremd wie der Kertész ohne Eigenschaften und ohne Schicksal, der im Leben Handelnde. Dieser Mensch ist zu allem fähig, zum Guten wie zum Bösen, und keine Benennung entspricht der wirklichen Qualität des Handelns. Im Grunde hat mich diese Erkenntnis zum Schriftsteller gemacht, und daß ich Schriftsteller wurde, löst, während des Schreibens und durch das Schreiben – aber auch nur dann, nur so lange –, jene Fremdheit auf und bringt so etwas wie Kohärenz, etwas wie menschliche Qualität hervor, um die ich fortwährend kämpfen muß. Nicht Auschwitz – das Erduldete – hat mich zum Schriftsteller gemacht, sondern das Militärgefängnis – die Situation des Henkers, des
Täters
[1] . Diese Situation machte mir die Flexibilität bewußt und auch die Schande des Duldenden, des Opfers. Sie machte mir den dionysischen Zustand bewußt, der – Nietzsche zufolge – die klassischen Griechen so überraschte. Es überraschte sie, diesen Wesenszug in sich zu entdecken, zu entdecken, daß das Chaos, die Neigung zum Chaos, in ihnen wie ein unaufhaltsamer, siedender Geysir zum Ausbruch kommt. Die Diktatur der Massen in den Massendemokratien verfügt über die Anziehungskraft eines schwindelerregenden Strudels. – Aber ich will nicht über mich selbst sprechen, sondern über jenen Menschen – den Menschen der Katastrophe –, für den es keine Rückkehr mehr ins Zentrum seines Ichs gibt oder wenigstens in irgendeine feste und unwiderlegbare Ich-Sicherheit, der also im wahrsten Sinne des Wortes
verloren
ist. Dieses Ich-lose Wesen ist die Katastrophe, das wahre Übel – und amüsanterweise ist es, ohne daß es selbst schlecht wäre, dennoch zu jeder Untat fähig; auf der anderen Seite ist es noch in derselben Stunde dazu fähig, ins redliche Gewissen und die Lebensweise des

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