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Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)

Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)

Titel: Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Imre Kertész
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Kleinbürgers zu schlüpfen. Dieser Mensch ist der Bote der letzten Stunde und derjenige, der sie herbeiführt; er wird auch ihr Vollstrecker sein.
    10 . August 2001  Warum nenne ich die Epoche, in der wir leben, nicht beim Namen? Wir leben in der Epoche der Auschwitzkultur.
    22 . August 2001  Vom 13 . bis 21 . Salzburg. Ich weiß nicht, wozu das gut war. Wieder habe ich bedauert, nicht der Gesellschaft und der Kultur anzugehören, in die ich gehöre – oder gehörte, trennte mich nicht die Sprache, diese dumme geistige Wegsperre, von ihr. Doch da gibt es so eine festliche Prozession, die sich nicht sichtbar, nicht in sichtbaren Räumen abspielt; Künstler kommen daher «mit Pfeifen, Trommeln und Schilfgeigen», ein bißchen aggressiv, ein bißchen gefallsüchtig, wie die Trompeten-Clowns in den Fellini-Filmen, und entfachen ein Feuer in den Herzen. Irgendwo feiert man das Fest des Lebens, nur nicht hier, und ich kann nicht mit ihnen feiern, weil ich hier bin.
    23 . August 2001  Ich komme von einer Beerdigung, obwohl ich sonst nie dabei bin, um mit Alma Mahler zu reden. Bei brütender Hitze wurde der arme M. M. begraben; die professionellen Grabredner erfüllten ihre schreckliche Pflicht gleich Henkern. Ich konnte nicht umhin, die gelblichen, von Schwielen geplagten Fersen zu bemerken, die unter dem langen Ornat der reformierten Pastorin offen hervorlugten. In ihrer Trauerrede sagte sie so etwas wie der Tod sei die «endgültige Trennung» vom Leben, vom Lebendigen. Das erstaunte mich; sollte es bei den Reformierten keine Auferstehung geben? Haben sie einen anderen Christus als die anderen, oder ist die geistliche Dame eine radikal gesinnte Klerikerin? Der trauervolle Ton der Grabreden und die obligatorischen Trauermienen sind die schlimmsten Hindernisse, um des Toten wirklich zu gedenken. Statt dessen tauchte vor meinen Augen das klare, schöne Gesicht von Magda auf, wenn man mich einmal begraben wird; ich brach fast in Tränen aus, so leid tat sie mir, denn ich weiß, mein Tod wird für sie ein großer Schmerz sein, und mit diesem Schmerz wird sie allein sein. Mein analytischer Verstand fragte sofort, ob es sich nicht in Wirklichkeit um Selbstmitleid handelt. Ich hätte reinsten Gewissens verneinen können, so sehr fühlte ich die Trauer meiner Frau; doch es kann natürlich auch eine Art geistiger Voyeurismus gewesen sein.
    Was meine gestrige Aufzeichnung nicht enthält, ist gerade das Wesentliche. In Salzburg und bei den Presseberichten darüber war eine auffallende Veränderung zu beobachten. Eine neue Ära bricht an, der Sentimentalismus des Überlebens und der sexuelle und philosophische Liberalismus der Nachkriegszeit gehen zu Ende: Es folgt wieder eine männlichere Epoche, brutaler Konformismus, vielleicht Krieg. Jedenfalls faschistoid (oder wie sollte man es nennen). Einem liberalen Ästheten zufolge (Süddeutsche Zeitung), der sich für einen bedeutenden Publizisten hält, ist das Ende jeder Ernsthaftigkeit gekommen und wird diese Ernsthaftigkeit heute nur noch von wichtigtuerischen osteuropäischen Künstlern in schlecht sitzenden Anzügen vertreten, die mit ihrem Unglück nichts anfangen können. Zumindest nichts anderes, als die Welt mit der eigenen Verdrossenheit zu drangsalieren. Demnach ist die westliche Welt schon jenseits von Gut und Böse und will sich nur noch amüsieren? Aber worüber? Und zu welchem Ende? Schließlich ist nichts langweiliger als gute Unterhaltung.
    5 . September 2001  Gestern nacht und im Morgengrauen das Drehbuch zum
Roman eines Schicksallosen
abgeschlossen, und die Melodie, die immer wieder irritierend durch diese Arbeit gedudelt hat, wird nun stärker. Eigentlich ist es eine Frage, und die lautet: Was zum Teufel hat mich zu dieser Arbeit verleitet? Es lassen sich da gewisse praktische Dinge anführen, das Geld (auf das vorläufig keinerlei Aussicht besteht) und daß es kein anderer hätte machen können usw., doch wir müssen uns darüber im klaren sein, daß das nicht die Wahrheit ist. Außerdem besteht bei mir noch eine gewisse Professionalität, ich liebe es zu arbeiten, etwas zu «machen», wie früher, als ich viel übersetzte. Aber auch darum handelt es sich hier nicht – nicht um die möglichst perfekte Erledigung einer «Aufgabe». Ich habe ganz einfach eine primitivere, sentimentalere Variante des Romans hergestellt: als schriebe ich, viel direkter als im Roman, über mich selbst. Aber was hat mich dazu gebracht? Wahrscheinlich die stärkere Plastizität

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