Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)
dem aber doch noch etwas vom Duft des
ancien régime
haftete, von dessen Stabilität, dessen Kultur, dessen Europäertum.
Ich meine herausgefunden zu haben, was mich dazu bringen konnte, das Drehbuch zum
Schicksallosen-
Roman zu schreiben: Ich glaube, ich halte den Text heute nicht mehr für so heilig und unantastbar wie früher. Was der Grund dafür ist – daran wollen wir nicht rühren. (Vielleicht der Schluß. Den sehe ich inzwischen mit mehr Distanz. Aber das heißt nicht, daß ich ihn nicht mehr für authentisch hielte. Authentizität verleiht einem Werk – interessanterweise – der Moment des Schreibens.)
8 . September 2001 Jeden Morgen möchte ich weinen, weinen um M.
11 . September 2001 In den westeuropäischen Ländern besagt ein Gesellschaftsvertrag, daß die Behörden beaufsichtigt werden und die Menschen nicht willkürlich schikanieren können. Die Bevölkerung ist vor einem Straf-und Internierungslager-System geschützt; eine Diktatur kann, wenn überhaupt, nur auf ungesetzlichem Wege zustande kommen und müßte bis zum Schluß mit ihrer Illegalität rechnen und damit, später zur Verantwortung gezogen zu werden. Das alles ist das Ergebnis geschichtlicher Prozesse und gesellschaftlicher Aktivitäten. – In Mittel-und Osteuropa dagegen ist die Demokratie über die Köpfe der Bevölkerung hinweg proklamiert worden, und die politischen Prozesse der letzten zehn Jahre zeigen, daß sie jederzeit zurücknehmbar ist. In diesen Ländern hat sich die Demokratie noch nicht als eine Existenzbedingung erwiesen; in diesen Gesellschaften hat sich noch kein spürbarer Schutzinstinkt gegen die Willkür entwickelt. Im Gegenteil, es haben sich eher jene Instinkte entwickelt, die der Überlistung durch eine Willkürherrschaft dienlich sind, dem Fortbestand und Überleben autoritärer Macht. Und was ein derartiger Unterschied bedeutet, fürchten weder die einen, noch wissen es die anderen, weder die im Westen noch die im Osten, und das Schlimmste dabei ist, daß sie manchmal meinen, dennoch die gleiche Sprache zu sprechen.
Jede menschliche Beziehung ist Illusion. Die Familie: Erbschaft, Vermögensfragen. Die Freundschaft: lauwarme Worte, Unvermögen, Untätigkeit. Mitunter ein wenig Schadenfreude. Die Liebe: verfliegt spurlos innerhalb eines Augenblicks. Und irgend etwas gibt es trotzdem, trotz allem erblüht manchmal eine Tat. Aber stets unvermutet, meist nicht da, wo wir es erwarten, und nicht von seiten dessen, in den wir unser ganzes Vertrauen setzten.
13 . September 2001 New York zusammengestürzt und die ganze bisherige Weltordnung.
Die kleine Tony hat angerufen. Sie arbeitet im World Trade Center, an diesem Tag aber kam sie zu spät und ist so am Leben geblieben. Márai oder Remarque würden daraus sicher die Lehre ziehen: Man sollte sich niemals beeilen.
Man erwacht plötzlich in einem Schlafzimmer und weiß nicht, wie man in sein Leben zurückfinden soll. Zufall, Lüsternheit und die Laune des Augenblicks bestimmen unser absurdes Dasein.
15 . September 2001 Inzwischen ist nicht mehr daran zu zweifeln, daß West-Europa die glückliche Periode zwischen 1949 und 1989 nicht für sein Glück genutzt hat. Es scheint, nicht nur die Menschen, sondern auch die Gesellschaften sind nicht für das Glück, sondern für den Kampf geboren. Das gesetzte Ziel ist immer das Glück, aber das ist stets nur ein lockendes Bild. Wir wissen immer noch nicht, wie das Leben des einzelnen mit den Zielen der Gesellschaft in Einklang gebracht werden soll, von denen wir kaum etwas wissen. Immer noch wissen wir nicht, was uns treibt und warum wir – eigentlich – leben, über die vegetativen Automatismen hinaus. In Wahrheit herrscht immer noch keine Klarheit darüber, ob
wir
existieren oder nur die leibliche Gestalt der in uns tätigen Zellmassen sind – ein Sinnbild, das so tut – so zu tun gezwungen ist –, als sei es eine autonome Realität.
21 . September 2001 Begreifst du immer noch nicht, daß es zu Ende ist? Dein Leben wird keine Qualität mehr haben, deine Freiheit schwindet dahin, und du wirst kein Recht haben, dagegen aufzubegehren. Heute kannst du noch aus dem Fenster springen. Warum tust du es nicht? Weil du feige bist und falsche Hoffnungen nährst.
Frag nicht, ob du
dieses
Ende verdient hast. Frag dich, warum du es abgewartet hast, warum du ihm nicht zuvorgekommen bist. Frag, warum du dich nicht einem Moment des Wahnsinns hingibst, der dich fortreißt von hier.
Die Antwort auf das alles heißt:
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