Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)
geschichtliche Sensation des 20 . Jahrhunderts bezeigen. Daneben gibt es noch die Akteure der Spielberg-Interviews, diese alten Leute, Frauen und Männer, die nach dem ersten Wort so gerührt über sich selbst sind, daß sie vor der Kamera in Tränen ausbrechen oder aggressiv werden. Wenn eine alte, spitzgesichtige Frau, deren Kinnlade das Gebiß wie bei einem Nußknacker klappern läßt, die allen bekannten Gemeinplätze mit bösartiger Gesinnung wiedererzählt, könnte man beinahe denken, es wäre, wenn es schon passiert ist, besser ihr passiert … (Ich bin nicht zynisch, ich spreche nur die Wahrheit aus, was so wenige tun oder zu tun wagen; für mich hingegen ist es inzwischen egal.)
Der Holocaust wird nicht dadurch zu einem originären Ereignis – das eine eigene Kultur schuf –, weil an Frau Schwarz Unrecht verübt, eventuell auch ihre Familie ausgerottet worden ist. All das ist tragisch, aber die sogenannten Holocaust-Relativierer haben recht, wenn sie sagen, daß so etwas auch schon anderen Völkern widerfahren ist. Ich würde noch weitergehen: Das Wesentlichste ist nicht einmal, was mit den Juden geschehen ist, das Wesentliche ist, was mit den europäischen Werten geschehen ist. Die Offenbarung des Holocaust besteht nämlich darin, daß wir von einer Wertekrise zu einer endgültigen Zurücknahme der Werte gekommen sind. Die
Offenbarung
am Berg Sinai hat mit dem, was in Auschwitz offenbar worden ist, ihre Geltung verloren. Daß man, teils aus Feigheit, teils aus Verantwortungsgefühl, den Eintritt des Chaos, wenn man so will: der Apokalypse, zu verschleiern sucht, hat keine Bedeutung. Wozu jedoch die kleinen Mächte Osteuropas und des Nahen Ostens fähig sind, die sich von jeder Verantwortung entbunden – weil betrogen – fühlen, können wir auf dem Balkan und anderswo gründlich studieren – zum Beispiel bei den Strippenziehern auf den Zuschauertribünen ungarischer Fußballstadien.
Ich weiß wohl, daß mein Reden vollkommen überflüssig ist. Wie Borowski sagt: «Das Geschrei der Dichter, Anwälte, Philosophen und Priester wird über uns hinwegtönen.» Dennoch möchte ich mich auf das berufen, was ich in meinem letzten Essay (
Die exilierte Sprache
) dargelegt habe: daß man von Auschwitz nicht mehr in einer Vor-Auschwitz-Sprache sprechen kann, weil diese Sprache, jedenfalls in Bezug auf Auschwitz, ihre Gültigkeit verloren hat. Um eine solche Vor-Auschwitz-Sprache handelt es sich auch bei dem «nicht zu verstehen».
Vor
Auschwitz war es tatsächlich nicht zu verstehen, in Auschwitz und nach Auschwitz ist es
natürlich
. Ich bedaure, so
nasty
zu sein, aber ich halte auch das Argument nicht für relevant, daß jene (Vor-Auschwitz-)Sprache besser verstanden werde und man folglich größere Massen mit ihr «erreichen» könne. Es greift bei mir deshalb nicht, weil ich es wiederum für unverständlich halte, daß sich die Wahrheit nur um den Preis einer Lüge «verkaufen» lassen soll. Die Wahrheit ist nun mal nicht verkäuflich, und was schließlich trotzdem so verkauft wird, ist nicht die Wahrheit. Wem nutzt das? Wer wird dadurch reicher? Nun, die Antwort liegt vor: Steven Spielberg (und seine Jünger). Aber das ist nicht die Wahrheit, und auch kein Trost.
7 . August 2001 Ich sehe das Datum, und sofort fällt mir ein: der Geburtstag meines Vaters. Zu meinem Vater aber fällt mir, zumindest im Augenblick, nichts ein.
8 . August 2001 «Es gibt Gott also?» fragte er verblüfft und mit einer für Geistesmenschen bedenklichen Geste des Eingeweihtseins. – «Aber natürlich gibt es ihn», erwiderte ich. «Wo ist er?» fragte er, abermals mit diesem Lächeln eines Rationalisten. Und statt mit dem Gemeinplatz «in uns» antwortete ich mit einem anderen Gemeinplatz: «Nicht in Raum und Zeit.» Und wurde natürlich still, denn das sind nur Worte, Worte aber haben
nur
ihren Raum und ihre Zeit, besser gesagt, ihre Bedeutung. Aber sie können nur dem Menschen begreifliche Dinge bezeichnen, Raum und Zeit, nichts anderes, also nur Dinge, die wir auch ohne besondere Übereinkunft verstehen könnten; diese besonderen Übereinkünfte aber würden in Gegenwart eines Dritten sofort kippen. Und so entzog ich mich dem Gespräch, das ursprünglich mit einer Frage begonnen hatte, die sich auf einen meiner Texte bezog. «Was ist das, Transzendenz?» hatte er gefragt, als wolle er mich zur Rede stellen. So entspann sich ein Gespräch, in dessen Verlauf ich nur hatte sagen wollen, daß Musik oder Kunst, die von Gott
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