Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)
der Bilder und lebenden Darsteller, die auf bestechende Weise
Leichtigkeit
ermöglichte. Die Frage ist letzten Endes, ob ich nicht Verrat begangen habe. Persönlich, meine ich, die Öffentlichkeit außer acht gelassen, sicher nicht. Öffentlich aber habe ich gezeigt, wie leicht eine Variation und wie wenig notwendig eine notwendig erscheinende und als notwendig postulierte Form ist. Alles ist möglich – und das ist wie das «Postmoderne», das ich so verabscheue.
Heute hat man bei Magda eine Drüsenveränderung in der Achselhöhle festgestellt. Zum Sterben wäre es für uns beide noch zu früh. Aber etwas sagt mir, daß wir uns bald entscheiden müssen. Eigentlich bin ich bereit für den Tod, ich würde es nur bedauern, meine Arbeit unvollendet zurückzulassen. Andererseits, diese Bedenkenlosigkeit, mit der ich über den Tod rede … ist das ernst oder nicht? Ich glaube, einerseits ernster und andererseits weniger ernst, als man denkt. Das Leiden – allein das Leiden ist ernst. Ich fürchte mich vor dem Leiden Magdas, und ich kann ihr Leid nur lindern, wenn ich mit ihr leide, und so wird es doppeltes Leid sein, für sie sowohl wie für mich. Für einen, der nicht liebt, ist es einfacher.
6 . September 2001 Die grauenhaften Tatsachen haben sich bestätigt. Man hat bei Magda Metastasen in den Lymphdrüsen gefunden. Ihr, und natürlich auch mir, stehen furchtbare Dinge bevor. Wir haben jedoch beschlossen, sie durchzustehen. Es gibt eine Grenze, von der an es nicht mehr lohnt weiterzumachen; doch da sind wir noch nicht. M. sagt, sie könne es noch nicht begreifen; aber es gibt hier nichts zu begreifen. Ich muß an mein Gespräch mit dem Tumorspezialisten denken. Mit leuchtenden Augen erklärte mir dieser Biologe die Funktionsweise der Zellen im menschlichen Organismus. Diese Zellen existieren und agieren in uns ganz autonom, nach ihren eigenen Gesetzen oder – wenn man so will – ihren eigenen Launen. Sie verbinden und teilen sich, initiieren oder durchlaufen Mutationen usw. Als ich bemerkte, das sei doch schrecklich, sah der Biologe mich erstaunt an. Warum? fragte er. Eine Krankheit habe nichts mit dem Begriff zu tun, den wir uns davon machten – letzten Endes habe sie auch nichts mit uns zu tun, sie töte uns höchstens. Nach seiner Erklärung hat sie nichts mit unsrer Moral zu tun, nichts mit unseren Handlungen und nichts mit unseren Tugenden oder Lastern. Die Zellen beherrschen uns blind und auf absurde Weise. Wir sollten das Leben deshalb nicht so ernst nehmen. Unserem Leben keine größere Bedeutung zumessen, als es wirklich hat. In Wahrheit ist ein Menschenleben demnach mit Null identisch. Ein Exemplar der Spezies – nicht der Rede wert. Nur uns bereitet dieses Menschenleben Schmerz, entweder weil wir es lieben oder weil es zufällig unser eigenes ist.
Ich muß ganz ernsthaft analysieren, wie sehr ich am Leben hänge – besonders in Anbetracht des bevorstehenden Alters und Verfalls, des physischen Elends, das den Menschen zutiefst demütigt und ihm jede Eigenständigkeit, jeden Rest von Würde nimmt.
7 . September 2001 Camus irrt zutiefst, wenn er den Selbstmord eine philosophische Frage nennt; Selbstmord ist ausschließlich eine praktische Frage.
Mir ist bewußt, daß mit dem gestrigen Tag der schönere Teil meines Lebens zu Ende gegangen ist. Woraus bestand dieser schönere Teil, wenn ich vom Schöpferischen – dem Schönsten – absehe? Nie mehr werden wir mit dem Auto durch die Provence fahren, nie mehr werden wir sorglos und frei sein. Auf Körper und Seele die Spuren von Operationen und der rasenden Todeslust unserer physischen Existenz; das Vertrauen, das wir ins Leben setzten, von Grund auf erschüttert. Uns droht der Schrecken körperlichen Verfalls, wir werden häßlicher, schwächer, wir gleiten aus der Welt. Mich ergreift Selbstmitleid, wenn ich daran denke, daß ich den größten Teil meines Lebens in der nichtswürdigen Diktatur eines charakterlosen, provinziellen Landes verbracht habe, während in der besseren Hälfte Europas das süße Leben blühte, vierzig glückliche, von Verantwortung freie Jahre in Glanz und Wohlstand, mit all deren einzigartigen Möglichkeiten. Jetzt, nachdem die Russen Osteuropa der besseren Hälfte hinterlassen haben, haben die Probleme auch dort angefangen. Das heißt die politische Verantwortung, die man vierzig Jahre lang – im wesentlichen – niemandem schuldig war. Wer diese vierzig Jahre Westeuropas miterlebt hat, konnte etwas Neues erleben, an
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