Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)
bleiben, solange sie mich braucht, sie pflegen, solange ich kann, und dann schnell … Man muß nicht unbedingt einen Revolver kaufen, und man muß auch kein Morphium besorgen. Man kann auch aus dem Fenster springen. Das ist noch am billigsten.
26 . Oktober 2001 Das Leben, das ich heutzutage führe, ist düster und widerwärtig. Eine Wiederkehr des immer Gleichen (zum Glück keine ewige Wiederkehr, weil das einzelne Dasein endlich ist). Es hat etwas von einer metaphysischen Farce, wie sich Charaktere und Ereignisse wiederholen, beziehungsweise ineinander verschwimmen. Die starre Struktur meines Lebens (Schicksals?): Es kann nichts anderes geschehen als das, was geschieht, als das, was mir – wenn ich so sagen darf – zugemessen ist. Mein restliches Leben ist ein Warten auf das Ende der Geschichte (den Tod), hin und wieder unterbrochen von den etwas kurzweiligeren Momenten meines vergeblichen Kampfes mit dem Roman. Keine Freude mehr, keine Überraschungen, keine höhere Entspannung, nur das Herumwandern in den diversen grauen Vorzimmern des Todes …
Im übrigen habe ich mein ganzes Elend schon immer als natürliche Strafe für meine Geburt aufgefaßt.
Ich muß mich stets, in allen Dingen, vom Gedanken der Liquidation leiten lassen. Es gibt nichts mehr, was ich bewahren müßte. Jetzt begreife ich die Leichtigkeit, mit der ich mich vor kurzem vom papiernen Material meines ganzen Lebens befreit habe (indem ich alle meine Manuskripte den F.s zur Aufbewahrung übergab, was eine Lüge war, denn ich will ja gar nichts bewahren).
Zufällig bin ich in diesen Tagen auf die handschriftliche Fassung eines Absage-Briefes gestoßen, den ich im letzten Jahr an Gábor Halmi von der Redaktion
Fundamentum
schrieb. Der Text soll hier stehen:
«Budapest, 17 . Januar 2000
Lieber Gábor,
ich bin Dir einen Artikel schuldig, statt dessen mußt Du Dich aber mit einem Geständnis begnügen: Als ich darangehen wollte, meine kleine Abhandlung über die unaufgearbeitete jüngste Geschichte zu formulieren, ist mir auf einmal bewußt geworden, daß ich diese Sätze schon so oft geschrieben und gesagt habe und so oft vergeblich, daß ich unfähig bin, sie noch ein weiteres Mal zu formulieren. Ich weiß nicht, ob Du verstehst, wovon ich rede: In mir ist das publizistisches Interesse an den Schicksalsfragen der ungarischen Gesellschaft einfach erloschen. Was vielleicht einerseits traurig, andererseits aber das natürliche Ergebnis jenes Prozesses ist, der mich meiner gesellschaftlichen Umgebung, ich kann sagen, von Kindheit an mehr und mehr entfremdet hat und mit der jetzigen kaiserlich-königlichen, christlichen, völkisch-nationalen Demokratie in Ungarn seinen Höhepunkt erreicht. Mit ernster Miene vermag ich darüber nicht mehr zu reden, und zum Witzeln habe ich keine Lust. Also kann ich den versprochenen Artikel nicht schreiben. Ich bitte Dich, das zu verstehen. Ich hoffe, es kommen wieder günstigere Zeiten.
Sehr herzlich …» usw.
Eine Antwort – aber das brauche ich wohl nicht zu erwähnen – erhielt ich nicht.
31 . Oktober 2001 In der Ausgabe vom 29 . Oktober 2001 der prominenten Tageszeitung
Népszabadság
[Volksfreiheit] ist unter der Rubrik «Nachrichten» folgende Mitteilung erschienen: « BERLINER BUCHWOCHEN . Mit einer Lesung des ungarischen Schriftstellers Imre Kertész sind am Sonntag die 10 . Berlin-Brandenburgischen Buchwochen eröffnet worden, in deren Rahmen rund 100 Autorenlesungen und Gespräche vorgesehen sind; fast ein Drittel davon außerhalb der Hauptstadt, in Orten im Land Brandenburg. Der 71 jährige Imre Kertész, ein Überlebender des Holokauszt (sic!), las aus seiner 1993 (!) entstandenen Erzählung
Protokoll
. In einer jüdischen Familie in Budapest geboren, wurde Imre Kertész als 15 jähriger nach Auschwitz deportiert und bei Kriegsende 1945 aus dem Konzentrationslager befreit.» Dieser Text hat mich in einer Weise erregt, und diese Erregung war, an der Bedeutung der Angelegenheit gemessen, derartig unwürdig, daß sie deutlich gemacht hat: Ich leide an einer lebensgefährlichen Überdosis Ungarn. – Wir haben uns in Berlin eine Wohnung angesehen.
2 . November 2001 Alles negiert mich – jeder Text, jede Verlautbarung dieser Stadt, dieses Landes, dieser Öffentlichkeit, dieser Menschen, dieser Literatur, dieses Wertesystems. Was immer ich höre, ich höre diese Negation, was immer ich lese, ich lese diese Negation, was immer ich sehe, ich sehe diese Negation usw. Weg von hier! heißt das
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