Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)

So ist es wirklich zu verstehen, daß Ehepaare und Liebende mitunter einen Dritten brauchen, um zu sehen, wie sie einander lieben, möglichst mit fremden Augen. Das erweckt wieder Achtung für den anderen, sogar Bewunderung, und bringt einen neuen Zauber in die Beziehung – oder verursacht unüberbrückbaren Haß. Aber das ist schon Luxus: Wir müßten unsere Alltagsaktivitäten lassen und unsere Zeit ausschließlich der Pflege dieser heiklen Beziehungen widmen. Wer könnte sich das erlauben? Und wer hätte Lust, soviel Mühsal – nicht mal für den anderen, aber für sich selbst aufzuwenden?
    17 . Dezember 2001  Der Roman: die Zeit der Ernte ist da … Ich verwerte alles, was ich seit ca. 1989 für das geplante «Stück» notiert habe. Und damit ist auch das «Stück» irgendwie gerettet; wie seltsam die Formen, die Gesetze der Kreation doch sind. Nach langer, blinder Arbeit untertage erscheint plötzlich Apollo im goldnen Wagen und sammelt mit vollen Händen alles ein, was unterdessen unbemerkt gewachsen ist oder am Wegesrand verstreut war: Und während er es einsammelt, verschmelzen diese Abfälle miteinander, wechseln von der Farbe des Staubs in die Farbe des Lebens, beginnen sich zu bewegen, zu Leben zu erwachen. Ich folge dem Vorgang mit Staunen, aber ich begreife nichts davon. Ich tue so, als sei ich der Autor …
    18 . Dezember 2001  Nachts. Das Gefühl großer Sinnlosigkeit. Ich weiß nicht, wer der ist, der hier sitzt; ich verstehe nicht, wie er die Tasten meines Computers drücken kann; ich glaube nicht, daß dieses gefühllose Wesen mit jemand identisch ist, dessen Leben ich schleppe. Usw.
    22 . Dezember 2001  Sonnenuntergang. Der kleine, struppige Hügel gegenüber, die «Haare» von grauem Schwarz auf weißem Grund – dünne, hoch aufragende, kahle Bäume auf verschneitem Boden. Darüber der Himmel, in seinem Blau träumt das Rosa des Sonnenuntergangs vor sich hin. Drei Flugzeuge ziehen weiße Streifen am blauen Firmament, lassen sie hinter sich, und hier und da scheinen weiße Haufen daraus zu entstehen; dann verschwinden auch sie, zusammen mit der Erinnerung …
    Der Name des Weihnachtsopfers: Zeit, Zeit und nochmals Zeit, die reine Zeitverschwendung.
    23 . Dezember 2001  Morgendämmerung. Den Roman durchgelesen (was davon steht). Bis zum Abschiedsbrief an Sára ist er fertig. Ich staunte über die Technik, erschauderte geradezu. Der Roman wird einem Turner-Bild ähneln. Die klaren Konturen wie von Nebeln verwischt, in ihrer Tiefe ein geheimnisvolles Leuchten: Und das ist das Sein selbst.

2002
    4 . Januar 2002  Vom 28 . Dezember bis 3 . Januar Berlin. Die Wohnung in der Meineke-Straße. «Wir richten unser Berliner Zuhause ein.» Natürlich richtet Magda es ein. Wenn wir auf den Kurfürstendamm hinausgehen, nur wenige Schritte weit, genau an der Ecke Fasanenstraße, eine Gedenktafel: Hier arbeitete Musil an seinem Roman
Der Mann ohne Eigenschaften.
Eine Luxus-Emigration, sagte ich zu unseren deutschen Freunden, den F.s. In Wirklichkeit ein durchaus konsequenter Schritt, wenn auch ein verspäteter. Die Nacht des neuen Geldes. Eine Art leichter Rausch, um mich Energien, mit denen ich sympathisierte. Dem Geld fehlt nicht die Seele, so sehr das auch bestritten wird; der Name der Seele ist, wie der des Geldes, Euro … Allmählich wird sie sich entfalten. Ein Gemeinschaft von Geld und Seele: Wenn das möglich sein sollte, könnte daraus etwas qualitativ Neues entstehen.
     
    21 . Januar 2002  Berlin. Am 18 . angekommen. Am Tag vorher erfuhren wir, daß in Budapest eine Demonstration organisiert werden sollte: für die Rechte der Juden, gegen den Antisemitismus genannten Wahnsinn und dessen offizielle Billigung seitens der Regierung. M. und ich hatten ernsthaft erwogen, eventuelle Risiken auf uns zu nehmen und mitzumaschieren. Am nächsten Tag erschien die Meldung, daß anläßlich des Jahrestages der Befreiung des Budapester Ghettos eine offizielle Gedenkfeier stattfinden werde. Reden von Außenminister, Oberbürgermeister usw. Sie stahlen die Demonstration. Statt dessen fielen sich Juden und Antisemiten um den Hals. Die ungarische Lösung hat sich seit 1944 kein bißchen geändert.
     
    Auch Chaos ist Ordnung, nur die Ordnung der anderen.
     
    «Goldfinger». Ein unglaublich dummer Film. Die unvorstellbaren Abenteuer des Geheimagenten 007 . Goldfinger, eine lächerliche Figur, die es aber zu einem gigantischen Vermögen gebracht hat, beschließt, in Fort Knox einzudringen und mit Hilfe