Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)
auch der Fall ist. Aber das erschüttert mitnichten seine generelle Wahrheit. Das Leben ist ein Irrtum, weil der Mensch seine Existenz auf moralische Prinzipien gründet, obwohl das Funktionsprinzip und die Praxis des Lebens, der Existenz, amoralisch sind. Dabei ist der Mensch weder im gesellschaftlichen noch im persönlichen Leben imstande, sich an die von ihm selbst festgesetzten moralischen Prinzipien zu halten. Der Mensch errichtet sein Leben auf der Lüge, weil er nicht anders kann. Der Tod macht zwar der Lüge ein Ende, setzt jedoch nicht die Wahrheit an ihre Stelle, er dient höchstens zum bestürzten Erkennen der Lüge.
Folglich bin ich selbst zwar Rationalist, doch da das Leben rational nicht erklärbar ist, lasse ich jeder Art Mystik breiten Raum.
Der jüdische Schriftsteller ist immer einer «von unten»: Man müßte bessere Worte finden für «Opfer» oder «Opfersituation» – der Jude, wenn er anständig ist, ist immer außerhalb des Besitztums. Darum geht es, um die Situation der Besitzlosigkeit. Wer besitzlos ist, so wie ich, kann keine sogenannte Literatur schreiben. Literatur schreiben die Ordnungshüter. Was schreibt der Jude? Der Jude schreibt die Bibel, das Buch der Besitzlosen, solange nicht auch die Bibel «amtlich» wird, das heißt das Buch der Ordnungshüter.
10 . Oktober 2001 Die Nazis mußte man überleben. In der Zeit des Bolschewismus war keinerlei Hoffnung auf Überleben; das System sah nicht so aus, als sei es am Ende. Aber ich habe seine Existenz nie akzeptiert. Ich habe mich nicht in seine Gedankenwelt eingefügt, nicht seine Sprache gesprochen, mich nicht in dem eingerichtet, was man normales Leben nennt: Ich habe keine Familie gegründet, mir keine sogenannte Existenzgrundlage geschaffen, die dieser Realität entsprach. Jetzt lebe ich zum ersten Mal in einer Welt, die als wirklich, als echt zu bezeichnen ist. Auch sie ist absurd, aber wenigstens ist auch die Absurdität wirklich.
11 . Oktober 2001 Heute hat man mich den halben Vormittag damit geplagt, daß ich den Nobelpreis bekommen würde. Ich habe dem Verlag (Suhrkamp) gleich gesagt, das ist ein Preis, den immer andere kriegen. Schließlich stellte sich heraus, daß ihn der britische Autor Naipaul erhalten hat (den ich übrigens aus Berlin kenne). Währenddessen konnte ich an mir beobachten, daß ich die ganze Sache als eine Belästigung empfand; ich war ausgesprochen erleichtert, als ich erfuhr, daß diese Glückskatastrophe nicht über mich hereingebrochen ist. Nebenbei gesagt könnte ich das Geld gut gebrauchen, doch andererseits verdiene ich, was ich brauche, und es erscheint mir irgendwie ehrenhafter, nicht im Überfluß zu leben und um sein Auskommen kämpfen zu müssen. – Und dennoch: die ganze Sache hinterließ bei mir einen Nachgeschmack, als sei ich ein Rennpferd, das mit einem Handikap einläuft. Widerlich, daß man sich schließlich doch verrückt machen läßt. Ich sagte zu Marci, ich schreibe über Auschwitz, aber man hat mich nicht dazu nach Auschwitz gebracht, damit ich den Nobelpreis bekomme, sondern damit ich umgebracht werde. Alles, was mir darüber hinaus geschehen ist, ist Anekdote. Daß ich den Nobelpreis nicht erhalten habe, ist genauso absurd, wie wenn ich ihn bekommen hätte.
12 . Oktober 2001 Ein mörderischer Herbst. Die Sonne brennt. Die Welt verfällt in Agonie. Gestern unter den Menschen in der Straßenbahn das entschiedene Gefühl, nicht unter Menschen zu sein. Dann fiel mir ein, daß man doch gerade diese Menschen als den «neuen Menschen» bezeichnen könnte, eine noch nicht dagewesene Art. Unglaubliche Brutalität. Feigheit. Herdenartige Dumpfheit. Bösartigkeit gegenüber dem Individuellen. Immer bereite Mordlust, die sofort auf das erste Zeichen von Schwäche reagiert. Eine gewöhnliche Pogromszene, die mir oft zu denken gab: Sie beschimpfen dich, gehen auf dich los, fallen wirklich aber erst dann über dich her, wenn du zu Boden gehst. Diese ekelhafte Tatsache habe ich nicht gewagt, in ihrer ganzen Wahrheit zu erfassen. Ich dachte, es sei doch ein menschlicher Instinkt, daß, wenn jemand zu Boden geht, der
Mensch
zurückschreckt (womöglich aufhilft). Es steht ganz außer Frage, daß die Welt zugrunde gehen muß. Aber das ist nur ein moralisches Gebot. Die Wahrheit ist, die Welt ist auf ein animalisches Niveau gesunken, und ihr Niedergang ist unaufhaltsam.
M. im Krankenhaus. Mein Bemühen, dem Roman näherzurücken, in vollem Umfang gescheitert. Nie werde ich den aufregenden
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