Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)
Weil es mir leid täte, einen Schriftsteller zu töten, der sich noch mit Plänen zu einem Werk trägt. – Ist diese Antwort ehrlich? Ich glaube, alles in allem ist sie das. Ehrlich. Solange es ein Werk gibt, gibt es auch einen Unterschlupf. Aber man verkommt, wenn man sich verkriecht. Versprich, nicht länger zu zögern, wenn dein Werk fertig ist. Aber planst du deine Werke nicht deshalb, um Aufschub zu erlangen? Wer sieht auf mich in dieser finsteren Nacht? Ich sehe mich selbst nicht …
2 . Oktober 2001 Ob es möglich ist, weiterzumachen? Man muß weitermachen, weil es
weitergeht
. Endlich bin ich mit allem fertig und zum Roman zurückgekehrt. Die Fremdheit der ersten Lektüre ist unwiederholbar. Sie hinterließ einen starken Eindruck bei mir: Eine undurchschaubare Stoffmenge steuert mit eisiger Sicherheit auf das Verhängnis zu. Man weiß nicht, was für ein Stoff, man weiß nicht, was für ein Verhängnis. Im Stil erinnert es ein wenig an den Nouveau roman, insofern bedenklich. Aber vielleicht nicht auffallend. – Schwere, fürchterliche Tage, wegen M.s Krankheit und der Veränderungen, die sich in der Welt vollziehen. Aber sind es wirklich Veränderungen, oder offenbart sich nur etwas, das schon immer da war? Auschwitz setzt sich fort, überall, in allem. New York = Auschwitz. Wer sähe das nicht? Am Abend die Dame aus Amerika. Sie erzählt, daß alle Israel und die Juden beschuldigen. Warum gelingt es nicht, dieses Volk auszurotten? Und wenn es einmal gelingen sollte, zu welchen Taten führt die Enttäuschung, daß die Befreiung von den Juden schließlich überhaupt keine Erleichterung bringt? Was für eine Illusion ist eine glückliche und ausgeglichene Weltordnung! Es scheint, die Menschen sind eine Gattung von Pechvögeln. Was sie auch Gutes beginnen, es endet stets schlecht. So könnte man die sogenannte Geschichte kurz zusammenfassen.
3 . Oktober 2001 Der Naturfilm gestern abend im Fernsehen. Auf den Galapagosinseln hat sich eine blutsaugende Finkenart entwickelt. Man sah, wie einer dieser Finken in der Trockenzeit auf die Beine eines verletzten Vogels flog – irgendeines enten-oder gänseartigen Schwimmvogels – und begann, ihm das Blut auszusaugen. Im Sinne des genialen Darwin ist eine Art entstanden, die vom Blut dieser größeren Vögel lebt. Sie fügen dem Vogel eine Wunde zu, fliegen dann auf die Wunde, wühlen sie mit dem Schnabel weiter auf und dringen in das Fleisch des Vogels ein. Man sah, wie die Finken einen hinten, in der Gegend des Legeganges verletzten Vogel malträtierten; ein anderer großer Vogel beobachtete die Entwicklung gleichgültig, er dachte überhaupt nicht daran, einzugreifen und seinem vom Unglück betroffenen «Vetter», seinem «Vogelkameraden» zu helfen; die Idee der Solidarität hat der Schöpfer dem Tier nicht eingepflanzt. Mehr noch, auch die natürliche Wahrnehmung eines Eigeninteresses nicht. Die großen Vögel, die die blutsaugenden Finken leicht vernichten könnten, erdulden ihre Schicksalsprüfungen stumm. Zwischendurch war die Nahaufnahme eines Finken mit blutverschmiertem Schnabel zu sehen, wie er gesättigt, aber noch immer blutrünstig und in Rage, mit böse zusammengekniffenen Augen schnaufte: Er ähnelte István Csurka. Interessant ist, daß man den großen Raubtieren ihre räuberische Natur ansieht: Gesichter so übel wie Straßenräuber. Aber daß sich ein verspielter kleiner Vogel auf einmal eine Raubmördervisage zulegt, ist lehrreich. Wenn ich der Funktionsweise der Natur ansichtig werde, wird mir immer wieder übel. Wo ist die Weisheit des Schöpfers? Er waltet doch eher aufgrund von Auschwitzprinzipien. Er vermehrt zwar die Arten, aber um den Preis des Mordens; die Bedeutung des Gebotes zur Arterhaltung ist nicht zu begreifen. Wozu? Der Mensch hat sich aus Gott ein moralisches Wesen, ja, das moralische Wesen schlechthin geschnitzt, aber Gott ist alles andere als moralisch. Aus diesem Prinzip hat sich auch nicht ein einziger Funke bei ihm verirrt. Er schaut heiter zu, wie seine Geschöpfe einander verschlingen und dabei erbarmungslos quälen. Weder bei Gott noch bei seinen Geschöpfen gibt es Erbarmen. Des Lebens Grundprinzip ist das Böse. Und der Mensch tröstet sich damit, daß ihm als Belohnung für die Arterhaltung ein ewiges Leben zuteil wird.
6 . Oktober 2001 Das Leben ist ein Irrtum, den auch der Tod nicht korrigiert. Leben und Tod: ein einziger Irrtum.
Dieser Eintrag mag als Produkt einer depressiven Stimmung erscheinen, wie es
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