Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)
irgendwelcher giftigen Strahlung den dort lagernden Goldschatz der Amerikaner zu verseuchen, um ihn für Jahrzehnte unbrauchbar zu machen und so das Wirtschaftsleben der westlichen Welt lahmzulegen (warum, wird nicht ganz klar). Er stellt eine Armee zusammen und bildet sie zu diesem Zweck aus, läßt Fabriken und Banken entstehen. Ich sah mir diesen albernen Abenteuerfilm an, die beispiellosen Heldentaten dieses 007 -Übermenschen, und als ich den Kopf am heftigsten schüttelte, wurde mir auf einmal klar, daß der Film, den ich sehe, wahr ist. Ist nicht eben das am 11 . September vergangenen Jahres geschehen, hat diese Bin Laden genannte Märchenfigur ihre Ideen nicht aus solchen schwachsinnigen amerikanischen Drehbüchern geschöpft und sogar, wie diese Ideen auszuführen sind? Die Geschichte ist zum kitschigen Actionfilm geworden, in dem jeder seine Statistenrolle zu spielen hat, ja, in dem die ganze Statisterie manchmal ausgerottet wird und ihr Tod nicht mehr Aufmerksamkeit wert ist als das Zerschellen der Tonfiguren beim Tontaubenschießen; solche Actionfilme und Actiongeschichten lehren in erster Linie, daß du ein Niemand bist und dein Leben und dein Tod soviel wert sind wie die Handlung des Films, die gar nichts wert ist. Am Ende siegt immer das Gestalt gewordene Gute, mit dem du jedoch als Statist nichts zu tun hast; für diese Rolle wird immer ein Star engagiert, und sein Privileg ist, daß er am Leben bleibt und sogar noch die ausgehandelte Gage bekommt.
23 . Januar 2002 Berlin. Gestern ist M. wieder abgereist, nachdem sie durch die Läden gegangen war, um mein «Büro» einzurichten; heute nacht saß ich an meinem neuen Glasschreibtisch; Ergebnis: der Anfang der Judit-Szene. Mein Roman ist interessanterweise ein «Spiegelroman», man muß ihn umgekehrt lesen. Nicht der Roman ist Teil des Theaterstücks, sondern das Theaterstück ist Teil des Romans; nicht Kerserű erzählt die Geschichte von B., sondern B. die von Kerserű usw. – Die Leute sagen, ich sei in Berlin freier und besser gelaunt.
25 . Januar 2002 Berlin. Zum ersten Mal lebe ich in einer Großstadt westlicher Zivilisation. Zum ersten Mal lebe ich in meiner Welt. Spät genug habe ich mich zu dieser Wende entschlossen. Eine Ady-Paraphrase: Berlin ist mein Paris.
5 . Februar 2002 Budapest. Die irrationale Vergiftung der letzten Berliner Tage. Stundenlange Telefongespräche. Angst brach aus, Eifersucht, die Hölle der Höllen. Heimkehr. Leiden. Ein festlicher Abend (die Premiere des Spiró-Stücks). Das vorhandene Material des Romans durchgelesen. Vollkommene Pleite, alles, was ich während der vergangenen Jahre mühsam zustande gebracht habe, muß einfach weggeschmissen werden. Ich schreibe diese Zeilen, als würde ich leben. Aber ich lebe so, als existierte ich nicht. Ich kann den deprimierenden Spielen meines verfallenden Körpers überhaupt nicht folgen, ich arbeite überhaupt nicht mit meinem eigenen Geist zusammen. Ich weiß nicht, was mit mir und meinem Leben geschieht. – Einige praktische Fragen: Noch in Berlin W.s Besuch aus Frankfurt. Ein sympathischer Verlagsmann, ein produktives Gespräch. Aber ich rede über eine Ware (den Roman), die nicht existiert. Wenn sich das herausstellt, wird es die verdiente Strafe geben. Zu meiner Entschuldigung sei gesagt, als ich über den Roman verhandelte, wußte ich noch nicht, daß ich über nichts verhandle; ich wußte noch nicht, daß ich dem Leben entglitten bin und auf nichts, das vollkommene Nichts zusteure.
8 . Februar 2002 Nachts. Mein Laptop richtet seinen tiefblauen Blick auf mich. Vergeblich: mir graust vor dem Schreiben und mir graust vor meinen eigenen Schriften. In mir ist eine tiefe Leere. Ich habe versucht, ein älteres Buch von mir zu lesen; ich glaubte, das würde mir helfen, aus der Misere herauszukommen. Aber ich versank nur noch tiefer darin; jede Zeile schien mir zutiefst falsch; es war, als schrien meine Sätze. Es ekelt mich. – Abends las ich M. aus Platons
Gastmahl
vor. Obwohl sie müde war, wurde ihr Gesicht wach und aufmerksam, es erschien darauf jenes Lächeln, das ein gutes, großes Werk uns entlockt. Ich wünschte, im Garten der großen Gedanken zu wohnen, zu lesen, wie einst, und zu vergessen, daß auch ich irgendwann Zeilen auf das stumme Papier geschrieben habe.
12 . Februar 2002 Schließlich ist mir zu Hilfe gkommen, daß mein
Kaddisch
in Ungarn neu aufgelegt wird und mir deshalb die Korrekturfahnen zugeschickt wurden. Dieses
Weitere Kostenlose Bücher