Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)
dringende Gebot.
5 . November 2001 Es gibt keine dümmere Frage als die, womit wir ein derartiges Schicksal verdient haben – auch wenn wir nicht begreifen, womit wir es verdient haben. Das bedeutet Schicksal ja gerade, und jeder bezahlt dafür, daß er gewagt hat, geboren zu werden, auch wenn er dafür genauso wenig kann wie für seinen Tod. Heute abend ermaß ich die Entfernung zwischen Balkon und Asphalt und schrak zurück. Doch früher oder später muß ich handeln.
17 . November 2001 Die vergangenen Wochen? Sie sind vergangen. Zweimal in Berlin, beide Male mit meiner Frau, der fürchterlichen Krankheit und der Chemotherapie zum Trotz. Ich muß sie heilen. Das ist keine Blasphemie, aber es hängt viel von mir ab; wie könnte ich wagen, meine Verantwortung zu vernachlässigen oder gar zu leugnen? Was für eine Prüfung!
Wir haben in Berlin eine Wohnung gefunden. Mut und Lust zu einem neuen Leben. Freunde. Gleichzeitig große große Müdigkeit. Mein Konflikt mit Unseld. In mir flackert Kampflust auf … Inzwischen bin ich angeblich 72 geworden. Im Prinzip bedeutet das gar nichts, aber wenn ich es laut ausspreche, merke ich, daß es kein Scherz ist. Es kommt näher …
20 . November 2001 In ca. vier Jahren möchte ich sterben. (Ich werde mich dann befragen – falls ich noch da bin.) Alles ist falsch. Richtig gelebt habe ich bis 1990 . Glücklich war ich sieben Jahre lang, zwischen 1983 und 1989 . Mein Volk wurde ausgerottet, ich kann keine Familie haben. Meine sogenannte Schriftstellerkarriere interessiert mich nicht mehr. Ich möchte am liebsten verschwinden und A. mit mir nehmen. (Warum muß ich alles geschrieben sehen, auch das, was ich vielleicht gar nicht sehen will?) – Im übrigen ist es mein Vorsatz, alle meine albernen Pflichten mit Anstand zu erfüllen.
22 . November 2001 In letzter Zeit habe ich in zahlreichen Zusammenhängen unzählige Male Worte wie «Ende», «am Ende», «der letzte» usw. benutzt. Auffallend.
7 . Dezember 2001 3 .– 6 . Dezember: Stockholm. Die Bucht; die Burgen und Schlösser, die sich auf die Kuppen der hügeligen Seite der Stadt verzogen haben und dort verwurzelt sind; die Schiffe, das Meer, die Straßen der Altstadt, die eleganten Boulevards auf dem Festland. Die alten Professoren, die erotische und snobistische Atmosphäre des Nobelpreises, die professionellen Konferenzgänger, Tschechowsche Figuren, wahre Banausen, die sich gegenseitig zuhören und daraus einen einträglichen Geschäftszweig kreiert haben. Eine im Verschwinden begriffene Welt: die «Literatur». Dröhnend hohlklingende Leere. Ein paar echte Menschen, angenehme Geschöpfe. Das Ganze, als ob ich einen Film sähe, in dem ich zwischendurch auch Darsteller sein muß. Vor allem aber M., die sich prächtig fühlte, ohne jede Spur von den beiden Chemotherapien – es sei denn die Perücke, die ihr jedoch fabelhaft steht. Ich verstehe im übrigen auch heute noch nicht, was ich dort zu suchen hatte. Ich müßte am Roman schreiben, der auf dem Grund meiner Seele müßig geht.
Keine Verbindung zu den großen Schöpferkräften, die mir früher hin und wieder Botschaften sandten. Ich lebe als Toter: Das Leben ist in mir verlöscht.
10 . Dezember 2001 Aus Stockholm zurück, nach kurzer Depression sofort an den Roman. Gestern, vorgestern, bei Nacht und tagsüber bedeutende Fortschritte: die «Silvesternacht» und die Reflexion darüber im «Stück». Nicht so bedeutend im Umfang, aber wesentlich: Diese Nacht eröffnet die eigentliche Perspektive des Romans. Es zeichnet sich ab, daß der zweite Teil zum großen Teil ein Monolog Judits wird … Schon das Notieren der Idee versetzt mich in unerhörte Erregung … Obwohl ich dem Computer dankbar bin, bedauere ich jetzt doch zum ersten Mal, daß ich diese große Wendung nicht mit der Hand aufschreiben kann, nur für mich, meine unleserliche Handschrift würde für Geheimhaltung sorgen.
13 . Dezember 2001 Im Laufe eines längeren Zusammenlebens stellt sich zwischen zwei Menschen allmählich ein gewisser Mechanismus im Umgang ein, ein perfektes Mittel, einander falsch oder gar nicht zu verstehen, woran man später nichts mehr ändern kann und mag. Weil man den anderen «benutzt» und ihn also nur von der benutzbaren bzw. handhabbaren Seite kennt. Jede Veränderung würde Revolution bedeuten, und wir sind nur selten in revolutionärer Stimmung, von den Risiken und Mühen, die mit dem Kennenlernen des anderen verbunden sind, gar nicht erst zu reden.
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