Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)
Roman dieses Menschen schreiben, der niemals aus dem Lager herausgekommen ist und die anderen auf seine kindische Weise erlösen will. (Die natürlich gar nicht so kindisch ist, weil er, statt Erlösung zu bringen, lieber einen Roman schreibt.) Und der die Diktatur als sein Zuhause empfindet.
13 . Oktober 2001 Auschwitz hat stattgefunden, und daß es stattgefunden hat (stattfinden konnte), kann als Faktum nicht zurückgenommen werden. Darin liegt seine große Bedeutung. Alles was stattgefunden hat, beeinflußt alles, was noch stattfinden kann. Es läßt sich nicht ausradieren aus der Zeit, nicht ausradieren aus jenem Prozeß, den man in Ermangelung eines besseren Wortes Schicksal zu nennen pflegt. Und daran ist nichts zu ändern.
16 . Oktober 2001 Wie merkwürdig dieses christlich-völkisch-irredentistisch-demokratische Ungarn ist! Es erinnert gleichzeitig an das Land unter Döme Sztójay und unter János Kádár. Es erinnert nicht an das Land Gottes, nicht an das der großen Ungarn des 19 . Jahrhunderts, nicht an Demokratie und nicht an Freiheit – es erinnert an das schlimmste präfaschistische Ungarn.
17 . Oktober 2001 Wir sind von Geburt an zum Tode verurteilte Sträflinge; mich aber macht das Schicksal gewissermaßen noch ständig darauf aufmerksam. Und da ich ein Anhänger nüchterner Prinzipien bin, gibt es nicht einmal jemand, den ich dafür verantwortlich machen könnte. In dieser Hinsicht hatte es Hiob leichter mit seinem aufs Wetten versessenen Gott.
20 . Oktober 2001 Das Tagebuch dient nur insoweit dazu,
mich selbst
darzustellen, wie dieses unbestimmte und konturlose Wesen –
ich selbst
– das in der Welt herrschende Chaos widerspiegelt. Bezeichnend für dieses Chaos, das von Taten wimmelt, ist gerade, daß es ein Hindernis für die Tat ist. Eine zerstörerische Welt der Lüge also, und jede Tat ist darin verlogen und zerstörerisch. Überdies auch nicht mehr interessant.
Ich kann die herzergreifende Geste dieses sterbenden Vogels nicht vergessen. Auf den Galapagosinseln wurde auf den Spuren Darwins gefilmt, wie zwei junge Vögel aus dem Ei schlüpfen und anfangen, aus dem Schnabel der Mutter zu fressen. Das stärkere Junge beginnt sofort, den schwächeren Bruder zu attackieren. Es quält ihn so lange, bis es ihn aus dem Nest gedrängt und das Futter für sich allein hat, das ihm die Mutter mit ihrem elenden Schnabel vorgekaut in den Schlund schiebt. Derweil sein aus dem Nest gestürzter, noch federloser Bruder verloren in der mörderischen Sonne liegt, umgeben von Gottes blutrünstigen Geschöpfen, die das sterbende Tier bereits erspäht haben und sich anschicken, es zu verschlingen. Da hebt der Vogel noch einmal den Kopf und läßt ihn dann in den Staub zurückfallen. Wäre ich Gott, hätte dieser Anblick mich sicher dazu gebracht, das totale Scheitern der Schöpfung einzugestehen. Weder Goethe noch Stendhal noch Churchill – niemand ist ein hinlänglicher Trost für diesen Tod. Und dabei haben wir noch nicht von Auschwitz, nicht von den Milzbrand erzeugenden menschlichen Ungeheuern gesprochen.
Nacht. Eine verzweifelte, schwarze Nacht, in der ich versucht habe,
Rot und Schwarz
zu lesen. Wiewohl es alle Zeichen eines großen Schriftstellers trägt und trotz seines Geistreichtums und seiner Radikalität ist es weitschweifig und langweilig. Ich weiß nicht, wo das Leben aus ihm entwichen ist. Aber ich kann mich auch irren. Julien und der Vater sind meisterlich. Vielleicht sind es die gesellschaftlichen Verhältnisse und die psychologischen Darstellungen, genauer gesagt Seelendarstellungen, die den Roman des 19 . Jahrhunderts verdorben haben. Ich gab ungeduldig auf.
Im Zimmer höre ich die Atemzüge meiner Frau: Sie schläft also. Ihre entsetzlichen Qualen. Der Weg ins Dunkel, auf den wir uns begeben mußten. Aus tiefstem Herzen wünsche ich meinen Untergang. Ich weiß nicht, wozu ich dieses lange Leben herunterbeten mußte, wo man mich doch rechtzeitig hätte umbringen können, als ich den Ehrgeiz und die Vergeblichkeit des Kampfes noch nicht kannte. Nichts hatte irgendeinen Sinn; nichts habe ich zustande zu bringen vermocht; das einzige Resultat meines Lebens ist, daß ich die Fremdheit kennenlernen durfte, die mich vom Leben trennt. Ich war schon zu Lebenzeiten tot. Jetzt, da die Existenzform zu Ende geht, mit der ich mich unter dem Schein des Schöpfertums selbst betrogen habe, gibt es tatsächlich nichts, weswegen ich noch leben sollte. Ich muß warten, was mit M. wird, bei ihr
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