Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)
. Oktober 2003 Eine ganze Weile schon kann ich meinem Leben nicht mehr folgen, das sich mit kometenhafter Geschwindigkeit von mir entfernt, während ich verwundert hinterherstarre, wie es immer kleiner und kleiner wird; bald wird es kaum noch wahrnehmbar sein am Horizont, dann drehe ich mich auf dem Absatz um und mache mich mit verzagten Schritten auf den Weg nach Hause.
17 . Oktober 2003 Ein radikal persönliches Buch, bis schließlich nichts mehr übrig bleibt (
Die letzte Einkehr
). Den Weg zu Ende gehen, im wortwörtlichen Sinn. Die Figur zerrütten, zermalmen, zernichten. Aber möglichst ohne jede Erklärung, vor allem ohne jede sogenannte Philosophie.
18 . Oktober 2003 Ein Brief: «Was nun das Interview betrifft, liebe Frau Lamprecht, so kann ich Ihnen zu meinem Bedauern nicht zu Verfügung stehen. Ich glaube, ein schriftstellerisches Werk niedergelegt zu haben, das auch als Zeugnis für meine Hingabe und Solidarität mit den Ermordeten und Überlebenden – zu denen auch ich gehöre – gelten darf. Doch das war auch eine ganz persönliche Leistung. Durch das Schreiben über Buchenwald bin ich Buchenwald gewissermaßen entkommen, habe mich selbst von Buchenwald befreit. Nachdem ich Buchenwald das erste Mal durchlebt und dann als eine imaginäre Welt, als Literatur von neuem ins Leben gerufen habe, hat sich Buchenwald für mich in eine Art Abstraktion verwandelt, mit der ich nur äußerst behutsam umgehen kann. Als realer Zeuge der realen Ereignisse, als «alter Frontkämpfer», um Semprúns Wort zu gebrauchen, als ehemaliges Opfer aufzutreten, würde für mich bedeuten, alles noch einmal zu durchleben, was ich hinter mich gebracht habe, es würde bedeuten, fast wieder ins reale Buchenwald zurückgesetzt zu werden, kurzum, ich müßte mich einer Gefühlsanstrengung auf einer so hohen Stufe aussetzen, wie es niemand von mir verlangen kann. Darüber hinaus bin ich der Überzeugung, daß solche Dokumentationsarbeit nicht zu meinen Aufgaben gehört, und als eine öffentliche Person wäre ich völlig fehl am Platz. Ich hoffe sehr, Sie werden mich verstehen.»
Die letzte Einkehr
Ein Fragment
In dieser letzten Einkehr
zwischen schwankenden Schatten
in trunkenen Nebeln
ein menschliches Wrack
auf dem sinkenden Achterschiff
auf dem schaukelnden Bug
eine Knochenhand
sie schreibt letzte Zeilen
auf das schäumende Wasser
Beim Spaziergang auf der ansteigenden Zugligeti-Straße setzt er sich an einem drückendheißen Sommervormittag auf die wackeligen Bretter einer Bank am Straßenrand und kritzelt Notizen in sein auf den Knien ausgebreitetes Heft.
Heute weiß er, es war schön. Alles war schön. Selbst das Häßliche. «Notiere alles. (Was du nicht vergessen hast.) Tagebuch zu führen ist nicht nur eine metaphysische Pflicht; manchmal kannst du auch das eine oder andere Datum brauchen», schreibt er.
Ein wirrer Traum. Eine U-Bahn-Halle, über-oder unterirdisch – es ist nicht klar, wo. Ein hagerer schwarzhaariger Mann streckt lächelnd, fast beiläufig, seinen dürren, langen, schwarzglänzenden Arm aus, erwischt ihn und hält ihn fest. Er flieht. Springt auf einen Autobus, steigt aus einer Straßenbahn aus. Er erwacht. Denkt an den Tod.
Spätabends verlassen sie das Bett, kleiden sich an und bestellen, wie seit Jahren schon, telefonisch ein Taxi für den Mann.
«Sie wirken mißmutig», sagt B. «Sie wollen nicht, daß ich gehe.»
«Nein», sagt die Frau.
«Ich auch nicht.»
«Noch können Sie das Taxi abbestellen.»
Er tut es.
Plötzlich hat er seine philosophischen Sätze satt … Wer versteht schon das Leben? Unsere Existenz ist existenzlos, unsere Wirklichkeit unwirklich. Ehe wir einen einzigen Knoten, einen einzigen Webfaden verstehen, begreifen, betasten können, fallen wir durch ein Loch wieder aus dem locker gewobenen Netz, denkt er.
Unsicher hebt er den Hörer, legt ihn ans Ohr – ein älteres Bakelitgerät –, obwohl er eigentlich gar nicht weiß, wen er anrufen soll. Aus dem Apparat ertönt unerwartet eine Frauenstimme:
«Sie haben Ihre Frau verloren.»
Er wacht auf. Cynthia schläft neben ihm.
Später steht er auf und arbeitet. Um ihn ist Angst. Sie winselt und wimmert zu seinen Füßen wie ein fremdes Hündchen.
Aus dem Spiegel blickt ihn das Altersgesicht seiner Mutter an. – Ich bin nicht bereit, in niederem Stil, mit niederen Worten, von niederen Dingen zu reden, nur damit ich in Ungarn annehmbarer erscheine, denkt er, während er sich das Gesicht
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