Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)
Kritik, jede Änderungsmöglichkeit ausschließt; die einzige mögliche Form des Handelns ist hier die Zusammenarbeit. Solche Bedingungen führen zu einer bestimmten Denkungsart; wenn wir diese Bedingungen in ihrem dynamischen Verfall sehen und nehmen den Handlungszwang dazu, erscheint am äußersten Rande dieses Denkens die Gestalt von Höß, der mit der Einführung des Zyklon-B-Gases nur die Brutalität der Prozedur «humanisieren» wollte, während er zugleich auch den «Betriebsgang» beschleunigte. Wer diese Art des Denkens versteht, versteht auch die Zeit, in der wir leben, denkt er.
Mitten in der Nacht bringen die Rettungsleute einen alten Mann in den Krankensaal.
«Zobel», stellt er sich mit müder, hölzerner Stimme vor, während man ihn auf ein Bett legt, «Zobel mit Z.»
Niemand antwortet. Jemand macht Licht. Die Krankenschwester, eine beleibte, aber hübsche Frau, schält mindestens vier Schichten Unterwäsche – Wollhosen, Unterhemden – von dem Alten ab. Sie arbeitet schnell, mit mörderischem Sachverstand, ohne ihren Ekel zu verbergen. Jetzt erscheinen zwei Ärzte: Sie legen dem Alten einen Zettel vor, er möge unterschreiben.
«Denn was wir mit Ihnen machen müssen, wissen wir erst, wenn wir Sie aufschneiden», erklärt der eine. Der Alte unterschreibt ohne ein Wort alles, was ihm vorgelegt wird. Dieses restlose Ausgeliefertsein erregt B. dermaßen, daß er es nicht mehr erträgt, im Bett zu bleiben, er geht wieder auf den Flur. Bald darauf wird der Alte zurückgebracht. Die Operation war offenbar kurz. Er folgt der fahrbaren Liege, die der Operationsgehilfe in den Saal schiebt. Der Alte liegt bewußtlos, mit geschlossenen Augen da. Der Pfleger faßt ihn unter der Hüfte, um ihn emporzuheben und ins Bett umzulagern. Aufgrund irgendeines unbewußten Reflexes aber klammert sich der Alte mit seiner spindeldürren Hand an den Rand der fahrbaren Liege. Ein böser, grotesker Kampf entfesselt sich nun zwischen dem Pfleger und dem bewußtlosen Alten, der in seinem Anästhesieschlaf wild um sein Leben kämpft und die Liege krampfhaft umklammert. Dabei rutscht das Laken von ihm herunter, und der frische Verband, die für die Operation rasierte Scham und die dürren Beine kommen zum Vorschein. Der Pfleger, ein nicht allzu starker, bebrillter Mann mittlerer Größe, schmeißt nun, wütend oder ohnmächtig, das sich ihm widersetzende Skelett aufs Bett, daß es nur so kracht. B. verfolgt das Geschehen entsetzt und feige von seinem Bett aus, er fühlt sich ohnmächtig, wie immer, denkt er, wenn man in meiner Gegenwart einen Menschen tötet. Vom helleren Gang her betreten jetzt zwei Frauen in weißen Kitteln den muffig riechenden nächtlichen Krankensaal; eine von ihnen schaltet erneut das Licht an, B. muß geblendet die Augen schließen. Die anderen Kranken drücken sich in ihre Betten oder schlafen. Der Operationsgehilfe diskutiert nun aufgeregt flüsternd mit den Frauen, ob sie den Alten mit Gaze ans Bett binden sollen; zur großen Erleichterung B.s tun sie es schließlich doch nicht. Er steht auf, und während er die Füße in die Pantoffeln steckt und den Morgenrock überzieht, fragt er die Frauen, woran der Alte denn operiert worden sei und ob sein Fall schwer sei. Die beiden Frauen mustern ihn mißtrauisch.
«Was geht das Sie an?» fragt die eine.
Auf einem Zeitungsfoto ein gealterter Schriftsteller, das Gesicht erregt seine Aufmerksamkeit. Er sieht ihn als jungen Mann vor sich, mit seinen schönen Krawatten, dem eleganten Hut. Im Alter läßt er sich gehen. Er trägt schlacksige Hosen und Baskenmütze wie ein Sonntagsmaler. Um seinen Mund ein scharfer, bitterer Zug. Man sieht, die existentielle Erregung hat ihn verlassen. Er sorgt sich nicht mehr um seine Seele, leidet nicht mehr an seinen Versäumnissen, das schrecklichste Verhängnis hat ihn erreicht: die Altersweisheit. «Auch ich», schreibt er in sein Heft, «könnte, wenn ich zurückblicke, sagen: Ich blättere zurück und erkenne erstaunt meine früheren Ich-Erlebnisse wieder, die entsetzliche Erregung, die meine Existenz in mir hervorrief. Es ist, als wäre die Spannung erloschen, so wie mich die großen, erhellenden Träume verließen – als erzählte ich mir selbst nichts mehr.»
Am Ende, sinniert er, wird er doch den Roman schreiben, den er vor mehr als zwanzig Jahren, 1976 , begonnen und dann verpfuscht hat: der tote Schriftsteller, der Lektor, der herbstliche Friedhof usw. …
Er trinkt einen starken Kaffee und liest
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