Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)
Kinder Sodoms zu perversen, blutrünstigen Ungeheuern macht (Nietzsche erwähnt die Sakäer). Letztlich geht es um den Rausch der sich selbst feiernden Diktatur, um das Dionysische, die Verführung. Die Engel, die in Lots Haus gehen und um Obdach bitten. Lot, der sie versteckt, während draußen die Orgie tobt: Gib sie heraus, damit wir mit ihnen spielen können! Lots Ekel. Lots Entschlossenheit. Das «Widerstehen». («Wißt ihr, was Einsamkeit ist, in einer sich pausenlos selbst feiernden Stadt?» etc.) Die Figur der Ruth. Die Figur Josephs. Die beiden Töchter. Sie lassen sich jenseits von Eden nieder. Lots Rückfall, die Orgie. Lot schreibt seine Erlebnisse auf und wird reichlich dafür belohnt. Was bedeutet die westliche Lebensweise, die westliche Kultur für ihn?
29 . Juni 2003 Die 68 er, eine vaterlose Generation. Letztlich wollten sie mit ihrer Revolution aber neue Vater-Institutionen schaffen. Der Mensch erträgt die Freiheit nicht. (Gestern Molderings im Wissenschaftskolleg: Er konnte mit keinem einzigen Vertreter der früheren Generation über die Nazi-Vergangenheit sprechen; sein Vater war Soldat, Pro-Nazi, wie er sagte.)
17 . Juli 2003 Morgens. Betäubt von Schlafmitteln, trotzdem unausgeschlafen. Quäle mich mit der deutschen Übersetzung von
Liquidation
. M. in Italien. Unerträgliche Hitze. Selbstportrait heute morgen: dicke, ockergelbe Oberfläche, darin kaum wahrnehmbare graue Züge; bezeichnend, daß ich in meinem Leben kaum anwesend bin.
18 . Juli 2003 «Ich habe Sie an Ihrem Schritt erkannt», sagte gestern die Dame auf dem Flur des Wissenschaftskollegs. Tatsächlich bin ich für sie an meinem rechts schlurfenden, links klopfenden Schritt zu erkennen, wie wenn in einem Hitchcock-Film das Unheil naht. In meinem Fall zieht nur ein alter Mann sein Parkinson-Bein nach und hinkt dazu in synkopem Rhythmus wegen seiner Rückenschmerzen.
20 . Juli 2003 Ende des Semesters, Ende der Saison. Menschen, die sich aneinander gewöhnt haben, sich eventuell sogar mochten, versammeln sich noch zu einem letzten Zusammensein. Ungezwungenes Durcheinander der Sprachen; lächelnde Frauen; jemand nimmt den Arm eines anderen; anderswo Männer mit ernsten Gesichtern, sie nicken still, in den Händen Rotweingläser. Unvergeßliche Abschiedsnachmittage. Der sich zum See hinunterziehende Rasen, oben der gelbe Balkon der Villa, die schloßartige Fassade des Wissenschaftskollegs. Ein Schiff zieht nahe vorüber. Die Gäste schmücken den Rasen als bunte Tupfen. Ein großer, blaßblauer Himmel. Abendessen im Restaurant am Seeufer. Bedächtige Auswahl des Rotweins. Das vorgeneigte, längliche Gesicht meines schweizerisch-amerikanischen Freundes, sein schwarzes Haar, die stechenden schwarzen Augen, wie eines der frühen, nüchternen Picasso-Portraits. Sein jüngerer Bruder, seine Schwägerin. Die Abenddämmerung führt uns alle zusammen. Der elegante italienische Kellner. Die große Gesellschaft am Tisch gegenüber. Das blaßrote Licht der untergehenden Sonne auf dem über den See hängenden Laub. Ich habe vergessen, wie der Sonnenuntergang auf Italienisch heißt. Wir fragen die Kellnerin. Tramontana, ruft beflissen, den Oberkörper ein wenig vornübergebeugt, ihr grauhaariger, schlanker italienischer Chef dazwischen.
21 . Juli 2003 Gestern nachmittag in meinem Zimmer im Wissenschaftskolleg mit I. die deutsche Übersetzung von
Liquidation
beendet. Leichtes Abendessen in einem Dahlemer Gartenrestaurant. I. gibt Goldhagen recht. Dann ruht mein ganzes Hiersein auf falschen Fundamenten. Dieser Satz hat allerdings auch in transzendentaler Auslegung Bestand. Ich hatte Lanzmann versprochen, einmal mein Verhältnis zu den Deutschen zu formulieren. Wenn alles Lüge ist, worin besteht die Lüge? Mir fällt der Titel einer alten Komödie ein,
Lüg die Wahrheit.
22 . Juli 2003 Es ist eine Tatsache, daß der Irak-Krieg zu einem gewissen Wandel im westdeutschen Grundkonsens geführt hat – und zwar zu keinem geringeren, als ihn aufzulösen. Auf einmal ließen sie ihren antiamerikanischen Gefühlen freien Lauf, deren Wurzeln in den modrigen Keller der Affekte reichen. Man hörte, daß Kritik an der Politik Israels kein Antisemitismus sei. Und damit hat eine neue Judenhetze ihren Anfang genommen, deren Perspektiven um nichts günstiger sind als die früherer Judenhetze.
23 . Juli 2003 Ich sehe ein, es ist schwer zu verstehen, daß ich ein imaginäres Buchenwald habe, das nicht mit der Wirklichkeit zu verwechseln ist.
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