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Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)

Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)

Titel: Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Imre Kertész
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Käsespachtel abschneidet; die so gewonnene Stirnfläche war unten in ihrer ganzen Breite bis zum Vordach des Restaurants hinauf mit bunten, sich an unsichtbaren Gittern emporrankenden Blumen bedeckt, und im erleuchteten Vorraum stand in weißem Hemd und schwarzer Schürze der Kellner, als wartete er dort seit ewigen Zeiten auf sie.V., der Gastgeber, den sie zum ersten und letzten Mal auf dieser Reise trafen, ein großer, gutaussehender, agiler Fünfziger, eröffnete das Essen mit Austern. Er spricht noch Ungarisch, aber schon fehlerhaft, mit starkem Akzent. Er ist Jude und war noch vor dem wie ein grauer Eisblock drohenden Kommunismus emigriert. Schon bald hatte er in verschiedenen Großtädten eine Weltfirma vertreten – und vertritt sie immer noch. Er hatte eine Deutsche geheiratet, ihr Vater war Nazi, und die Frau kompensiert das; eine große Judenfreundin, man könnte auch sagen, Philosemitin. Herr V. hingegen war – unter anderem – deshalb in den Westen gegangen, um sein Judentum, diese unauslöschliche Unannehmlichkeit, möglichst zu vergessen. Wenn man die Frau ansah, konnte man sich leicht vorstellen, daß sie attraktiv gewesen sein mochte, groß, blond und schlank, der Geist des Vaters umwitterte sie als Verheißung erlesener Perversität, so wie ein schwarzes Strumpfband, das ein Totenkopf ziert. Herr V. war in eine Falle getreten. Er, der von den Juden, der jüdischen Vergangenheit, dem jüdischen Grauen nichts mehr hören wollte, hatte eine kompensierende Deutsche zur Frau genommen, die wiederum gerade den Juden in ihm liebt. Tatsächlich zwingt sie ihm den Kitsch einer jüdischen Existenz auf, aus dem er sich dann in lange Auslandsaufträge rettet, und in fast jeder Stadt, denkt B., erwartet ihn eine Geliebte mit Limonadenseele und dem Körper eines Fotomodells, durch die er sich und seine mißglückte Ehe vergißt.
     
    Er blättert in seinem vor nicht allzulanger Zeit erschienenen Buch und stellt nach ein paar Seiten erstaunt fest, daß er darin einen besonders zeitgemäßen, flexiblen und glücklichen Charakter skizziert hat, der – aufgrund seiner phänomenalen Vergeßlichkeit beziehungsweise Fähigkeit zur Sublimierung – über alle Greuel der Existenz triumphiert. Er kann die vernichtenden Erlebnisse, die ihm widerfahren, nicht einen Augenblick für sich bewahren: Er nimmt sie zu sich wie Nahrung und scheidet sie dann in Form kürzerer oder längerer Fiktionen aus; mit Hilfe dieses Stoffwechsels trainiert und bewahrt er seine Vitalität. «Rechtschaffenere und stärkere Charaktere als er gehen zugrunde an dem, was mein Mann, sich der Verführung der Form überlassend, einfach aus sich absondert», schreibt er. Ist es möglich, daß aus dem verschleierten Selbstportrait ein wirkliches geworden ist? Wenn dem so ist, denkt er, ist Schreiben ein gefährlicherer Beruf, als er geglaubt hatte.
     
    Er schlief tief und fest, schutzlos und ausgeliefert wie ein Säugling. Auf einmal wurde es sehr hell, und ein gütiges dunkles Gesicht beugte sich über ihn. Er lag stumm, vielleicht auf irgendeine Offenbarung wartend. Das Gesicht war ihm irgendwie bekannt, dunkle Pupillen schwammen in einer milchweißen Flüssigkeit, über dem leicht geschwollenem Mund ein dünner Schnurrbart, steife schwarze Härchen. Worte dringen in sein Ohr:
    «Alles fertig. Gelungen», sagt jemand. Ist das nicht der Doktor G.? Liegt er nicht auf dem Operationstisch? …
     
    Die Nächte auf dem Krankenhausflur. Wie Gespenster gehen ein paar Kranke im Halbdunkel der Nachtlampen auf und ab. Einige tragen halbvolle Glasflaschen in der Hand, der dünne Gummischlauch des zuführenden Katheters schlängelt sich aus dem halboffenen Bademantel heraus. Die weiche Mischung aus Urin-, Chlor-und Fäulnisgeruch. Plötzliche Erleuchtungen auf der Krankenhausbank (bezüglich des Romans). Der Charakter der Frau. Noch ungelöst. Lügt sie? Oder vielleicht gerade aus Mut …? Das Krankenhaus als eine nach Ausschwitz-Prinzipien funktionierende Anstalt, doch nur aufgrund seiner Organisation, natürlich nicht aufgrund seiner Zielsetzung, seiner Absicht. Das Personal – Ärzte, Krankenschwestern und alle die anderen – besteht aus pflichbewußten, zu Tode gehetzten Menschen, und alle zusammen wollen dein Bestes, denkt er. Das Teuflische daran ist nur die unaufhaltbare Betriebsdynamik – zu viele Kranke und eine allmählich nicht mehr handhabbare Situation –, die alle guten Absichten in eine einzige Richtung drängt, gleichzeitig jede radikale

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