Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)
Wenn man mich einlädt, in Zusammenhang mit dem realen Buchenwald Zeugnis abzulegen, trifft mich das daher so wie eine Körperverletzung. Man stößt mich aus meiner imaginären Welt und deportiert mich nach Buchenwald, wo ich entsetzt um mich blicke. Dieses Geheimnis zu bekennen, fiele mir schwer. Es ist natürlich, daß ich denen zur Verfügung stehen sollte, die die Wirklichkeit – wahrhaftig – bewahren wollen. So gerate ich dann unter die alten Frontkämpfer, die die alten Insignien des Widerstands tragen, sich wegen ihrer Gelenk-und sonstigen Leiden kaum bewegen können und in der Gegenwart leider völlig überflüssig sind. Ich bin mir nicht sicher, ob ich zu ihnen gehöre. Ich bin mir nicht sicher, ob sie mich unter sich aufnehmen würden. In dieser Beziehung macht ihnen der Nobelpreis nur zu schaffen, so wie er mir nicht nur zu schaffen, sondern meine Beziehung zu diesen Menschen im Wortsinn unmöglich macht. Wenn mich das österreichische Fernsehen jetzt bittet, mich zum achten Block, dem Kinder-Block, in Buchenwald zu äußern, habe ich das Gefühl, in einem bestimmten, fortgesetzten Irrtum zu leben.
Die Sonne ist in diesem Sommer wie eine Botschaft der Hölle.
26 . Juli 2003 Gestern nacht, im Halbschlaf im Bett liegend, mit Kopfhörern Bartóks Sechstes Streichquartett gehört. Es stimmt also, daß einen, wenn man im Alter voranrückt, das Verlangen nach Bekenntnis immer mehr überwältigt. Es gibt kein abschreckenderes Zerrbild als einen alten Künstler, der nichts mehr zu bekennen hat und deshalb möglicherweise eher nach technischer Perfektion strebt. Dann ist das Schweigen mehr wert.
3 . August 2003 In den Bergen, in Gstaad, dem zur Ritterburg stilisierten Schweizer Luxushotel. Ringsherum die stummen Alpen, wie auf dem Einwickelpapier der jeden Abend für uns auf dem Nachttisch bereit gelegten Schokoladentäfelchen. Wir spannen aus. Ich empfinde Dankbarkeit für mein erstaunliches Schicksal. Und träume manchmal von Goldbarren, die aus herausgerissenen Goldzähnen geschmolzen sind.
4 . August 2003 Jene gewisse «Höllenmühle», die das Leben im Takt ihrer Radbewegung langsam und schmerzhaft zerschlägt. Ich habe eine traumartige Beziehung zu den Menschen – vielleicht noch mehr als zu mir selbst – und wache neuerdings oftmals davon auf, daß ich Schlechtes träume. War meine sogenannte Freundschaft mit Ligeti nicht von Anfang an falsch? Als ich ihn vor neun Jahren zum ersten Mal im Zuschauerraum des Hamburger Theaters erblickte – einen wirr aussehenden älteren Mann im schäbigen Pullover mit ein wenig krankhaft wirkender Gesichtsfarbe, unordentlichem grauem Haarschopf, einem von scharfen Falten durchfurchten, verhärmten Gesicht –, dachte ich, daß dieser Mensch jemand auffallend ähnelt, einem Mann, der in meinem Leben eine höchst unangenehme Rolle spielte; und doch ahnte ich, daß es sich um niemand anders als um Ligeti handelte. Wie gesagt, wir waren in einem Theatersaal, und ich hatte gerade auf dem Podium vor vielleicht 15 , 20 Leuten, die aus irgendeinem Grund auf dieses Ereignis neugierig waren, den Vortrag gehalten, den ich für das Reemtsma-Institut verfaßt hatte. Zuvor hatte ich einen Brief erhalten, in dem Ligeti, sehr höflich und sogar ein wenig förmlich, seinen Wunsch, mich kennenzulernen, ausdrückte. In meiner üblichen Art wälzte ich mich vor Ergriffenheit am Boden: Sieh an, der große Komponist. So begann es, und viele heitere Streitereien belebten unseren Umgang. In Wirklichkeit habe ich ihn, weil er die Rolle der starken Persönlichkeit übernahm, von der ich mich stets überwältigen lasse, als Leithammel in unserer wie in der Beziehung zur Welt akzeptiert. Zuletzt haßte er mich, auch er, wie so viele, aller Wahrscheinlichkeit nach wegen des Nobelpreises. Wegen seiner Krankheit und meiner eigenen Feigheit habe ich mir viel zuviel von ihm gefallen lassen. Er ist eine originelle Figur, originell auch in seiner Gehässigkeit. Auch ich bin originell, in meinem feigen und verzweifelten Bemühen, es jedem «recht zu machen». Wieso? Die gewohnte Unsicherheit. Die gewohnte Schauspielerei. Unser heutiger Dialog: Als ich ihm sagte, ich sei nach Gstaad gefahren, um auszuspannen, fragte er: Wieso, war es so anstrengend, den Nobelpreis entgegenzunehmen? Dieser Mann ist krank, er wird sterben, und dennoch habe ich, bildlich gesprochen, das Telefon aufgelegt, seine Telefonnummer aus meinem Notizbuch gestrichen. All das ist bitter, es verdrießt mich, daß mich das
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