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Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)

Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)

Titel: Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Imre Kertész
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mit dem Rasierpinsel einseift.
     
    Andererseits, sinniert er weiter, während er den Pinsel ablegt und das Rasiermesser in die Hand nimmt, interessiert mich der Bär nicht mehr. (Der Literatur-Bär, die große Trophäe.) Ich gehe davon aus, daß der Bär schon lange vor mir erlegt und verspeist worden ist.
     
    Er steht eingekeilt in der traurigen Menschenfracht der Metro. Wer weiß, welcher Logik oder Unlogik folgend, leert sich der Wagen an einer Station nahezu vollständig. Er setzt sich. Er schaut auf das müde Gesicht des ihm gegenübersitzenden Mannes, das mitten zwischen Halbschlaf und Wachsein auf einmal ganz erschlafft, jedweden Ausdruck verliert und sich wie ein bloßes Fleisch-, Knorpel-und Gallertkonglomerat langsam unter leichtem Schnarchen auf die Brust senkt. Als er nach Hause kommt, hört er Beethovens Sonaten opus 110 und 101 . Er denkt darüber nach, daß sich sein Leben grundlegend verändert hat und daß er das immer noch nicht begriffen hat.
     
    Manchmal fühlt er sich noch irgendwie unsicher. Der archimedische Punkt der Identität ist, wie es scheint, der
andere
. Die Existenz des
anderen
ist zugleich
mein
Identitätsbewußtsein. Fehlt der andere, erleiden wir außer Liebesverlust und Trauer auch die Unsicherheit des Rollenverlustes. Die gemeinsame Identität erweist sich manchmal als unechter Stil, gegen den wir unerwartet verstoßen. Und trotzdem verhelfen wir dann nicht der Wahrheit zu ihrem Recht, sondern begehen – so fühlen wir wenigstens – Verrat. Der Mensch sucht sich sozusagen unaufhörlich zu entschuldigen: Trauer ist das schlechte Gewissen des Überlebenden.
     
    Im rötlichen Licht der Dämmerung erreichen Cynthia und er im Mietwagen ihre Unterkunft in einem Dorf nahe Bayreuth. Ein Spielzeughotel, wie aus Pfefferkuchen erbaut. Sie schlafen in einem Baldachin-Spielzeugbett, beim Frühstück scheint es, als sickere aus allen Fugen des Gebäudes Wagnermusik und durchdringe sie wie der Duft von
bacon and eggs
. Man zeigt ihnen die Bayreuther Synagoge, die nicht abgerissen worden war, weil sie Mauern mit dem Opernhaus und dem Hotel teilt, in dem der «Führer» abstieg, so oft der Teufel ihn nach Bayreuth führte.
     
    Er sitzt mit dem alten Freund im alten Stammcafé.
    «Sie ist Krankenschwester geworden», klagt der Freund. «Heute, wo es tausend Möglichkeiten … Weder der Einspruch der Familie noch mein …»
    Langsam beruhigt er sich. Er trinkt seinen Kaffee, lehnt sich zurück und zündet sich eine Zigarre an.
    «Für ein Mädchen», sinniert er, «kann Schönheit eine schreckliche Last sein, solange es nicht ihre Art und Weise findet, sie zu vergeuden. Es ist wie bei einer großen Erbschaft; egal wie stolz oder zynisch, charmant oder rigoros jemand auch damit umgeht, in der Tiefe seiner Seele wird immer ein Unbehagen sitzen, das Vermissen einer ethischen Leistung.»
    Er macht eine Pause.
    «Das kann natürlich auch nur der letzte Trost alternder und ausgebrannter Männer sein», fügt er mit wehmütigem Lächeln hinzu und läßt die zitternde und flaumige graue Asche von der Zigarre in den Aschenbecher fallen.
     
    Hoher Sommer: Juni! Seit Donnerstag pulsiert ein Pacemaker in seinem Brustkorb.
    «Dann kann ich also gar nicht sterben?»
    Der Arzt beruhigt ihn: Es gebe auch Hirntod, nicht nur Herztod. Er bohrt nicht weiter. Während der kurzen Operation versucht er, alle Lügen von sich auszuscheiden. Das Gefühl, zum Tod bereit zu sein, war ein reines, überzeugendes, man könnte auch sagen, ein selbstsicheres Gefühl.
     
    Juni. Paris strahlte, der Wind blies seinen venezianischen Hut, ein Geschenk Cynthias, in den eleganten Teich des Louvre-Gartens, er aß einen Topf Muscheln in einer Brasserie in der rue Soufflot, und am Abend hatten bei den Wahlen die Sozialisten gesiegt. – Gestern im Theater hatte ein junger Freund – selbst Schriftsteller, obwohl die Bezeichnung Ästhet vielleicht eher zu seiner Beschäftigung paßt – erstaunt lachend konstatiert, daß er glücklich zu sein scheine, daß er ihm, B., diese Fähigkeit – zum Glücklichsein – eigentlich nie zugetraut habe und daß er sich sehr darüber freue, über diese «positive Widerlegung», wie er sich ausdrückte.
     
    Sie aßen in einem Restaurant in der Nähe des Arc de Triomphe zu Abend. Die Spitze des Eckhauses, in dem sich das Restaurant befand, also die vorgestellte Kante, an der die beiden Gebäudeseiten aufeinandertreffen würden, war abgeschnitten, so wie man ein Stück Camembert mit dem

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