Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)

Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)

Titel: Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Imre Kertész
Vom Netzwerk:
Nietzsche: «Nur die moralischen Menschen empfinden Gewissensbisse: das Elend des unmoralischen ist eine Dichtung …»
     
    Ein schneeweißer Eisenbahnzug trägt ihn mit einer Geschwindigkeit von 200 Stundenkilometern irgendwohin. Im Fenster ein frühlingshafter Berghang. Auf dem grünen Hang plötzlich ein leerer weißer Armsessel, so als hätte sich gerade jemand daraus erhoben, um ins Haus zum Abendessen zu gehen. In Erfurt nehmen drei Herren die Sitzreihe ihm gegenüber ein. Dunkle Anzüge, Krawatten, rechteckige Aktentaschen. Genauer besehen ist alles an ihnen neu: ihre Anzüge, ihre Krawatten, ihre Aktentaschen. Unwillkürlich spitzt er das Ohr:
    «Man muß warten lernen», hört er. Glattes, unsympathisches, jedoch intelligentes Gesicht. Dann:
    «Moral? In der Marktwirtschaft?» Allgemeines bitteres Auflachen: Die moralische Überlegenheit, die sie sich offenbar im einstigen Sozialismus zulegten, ist unbesiegbar und dient als Entschuldigung bei allen Schwächen, zu denen die alltägliche Praxis, das sogenannte «Leben» sie zwingt. Er kann das Gespräch nicht deutlich hören; bestimmte Worte und Begriffe aber tauchen, wie das Hauptthema in der klassischen Symphonie, immer wieder auf: «D-Mark», «Euro», «Europäische Union» … Ernste, gewichtige Worte, ernst und gewichtig ausgesprochen. Wie alte Schüler, die eine neue Lektion lernen, denkt er.
     
    Eines Abends verstrickt er sich bei S., einem jüngeren Schriftstellerfreund, unüberlegt in ein Gespräch über die Möglichkeit oder (besser gesagt) Unmöglichkeit seines Romans «über die Zeitspanne, die mehr als zehn Jahre, die seit dem Erdrutsch vergangen sind». S. fragt ihn unumwunden:
    «Verstehst du, was hier tatsächlich geschehen ist?»
    «Ja», antwortet er.
    «Und wie würdest du es zusammenfassen?» fragt ihn der Freund. Er überlegt ein wenig:
    «Daß es nicht zu verstehen ist», sagt er dann. Sie lachen. Anderntags erwacht er nervös, setzt sich schnell an den Schreibtisch und schreibt die Anfangssätze seines nächsten Romans.
     
    Seltsame physische Veränderungen. Manchmal merkt er, daß er seine eigene Handschrift nicht lesen kann. «Meine Hand ist unsicher geworden. (Mein Herz noch nicht.)», schreibt er.
     
    «Immer nur in festlichem Licht leben», schreibt er. Er träumt, daß er eine Tochter hat, die Cynthia gleicht.
     
    «Wenn der Atheist möglich ist, ist auch Gott möglich», schreibt er eines Tages.
     
    «Kann man Werke wie Schuberts
Impromptus
unter anderen Bedingungen schreiben als denen der Gottverlassenheit? Welche Verzagtheit brauchte ich immer dazu, einen Roman anzufangen …» schreibt er.
     
    «Tatsache ist, daß ich erstaunt den Reichtum meiner alten Probleme betrachte. Und entsetzt die Geschwindigkeit des Verfalls …» schreibt er.
     
    Winterliche Sonne in Luzern. Die eleganten Seeufer-Hotels. In einem von ihnen ißt er zum ersten Mal in seinem Leben Kürbissuppe. Die zu Hause so verpönte Pflanze erlebt in den Töpfen guter französischer Köche eine wahre Apotheose. – Das graue Bern. Die lange lange Arkadenreihe. Und die Nationalbank mit den ominösen Goldbarren im Keller. Er betritt ein Geschäft. Sucht ein Geschenk für Cynthia. Der Laden besteht aus mehreren Räumen. Er durchquert den ersten Raum, dann den zweiten. Nirgends eine Seele. Im dritten bleibt er vor einem glasbedecktem Pult stehen. Er scheint dort gefunden zu haben, was er sucht. Als er aufblickt, umstehen ihn drei Menschen. Woher sind die gekommen? Er hat niemand gesehen, ihre Schritte nicht gehört. Sie lächeln. Eine ältere Frau, zwei Männer. Unbeholfen erkundigt er sich nach dem Preis. Sie nennen ihm eine Summe, von der sie ohne jegliches Feilschen sofort etwas nachlassen, wenn er bar zahlt. Die Erkenntnis, daß sein Honorar sogar dafür ausreicht, erschüttert ihn förmlich. Obzwar er nicht genug Bargeld bei sich hat. Sie zeigen ihm einen Bankomaten gegenüber. Mit Hilfe einiger Ziffern läßt er Geld aus der Mauer sprießen. Für ihn ähnelt diese Handlung immer noch dem Wunder Moses’. Bevor sie das Geschenk endgültig einpacken, läßt er die kleine Schachtel noch einmal öffnen, um noch einmal zu betrachten, was er gekauft hat. In gehobener Stimmung macht er sich zum Hotel auf. Er wird nach Hause zurückkehren und mit einer natürlichen Geste, wie eben ein Mann seiner Frau eine Überraschung bereitet, das Geschenk, das er in der Schweiz für Cynthia gekauft hat, aus der Tasche holen. Mag sein, denkt er, es gab viel bedeutendere, die

Weitere Kostenlose Bücher