Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)
Maihimmel. Dann erhellt sich in einer fernen Brandmauer plötzlich ein Fenster, wie in einem Kafkaroman.
«Die Vertreibung des Geistes», erläutert sein alter Freund am gewohnten Ecktisch, «ist das Werk einer Institution», und bestellt bei der an den Tisch getretenen Kellnerin Apfelstrudel mit Schlagsahne. «Diese Institution jedoch», setzt er seine Erklärung fort, «deren Wirken so genau spürbar ist, ist im übrigen unsichtbar. Vielleicht existiert sie auch nicht, wir gehorchen ihr nur und erschaffen sie so für uns», setzt er mit einem Lächeln dazu, als sei er von der unerwarteten Einsicht selbst überrascht.
Er erwacht in der Nacht. Huscht in sein Arbeitszimmer. Macht das Licht an, beruhigt sich. «Katastrophengefühl umschleicht mich. Weltkatastrophe? Privatkatastrophe? Der Himmel schweigt, meine Umgebung, mein Organismus arbeiten still an meiner Auslöschung», schreibt er in sein Notizheft.
Am Vormittag erhält er drei Telefonanrufe. Er solle sich die Zeitung kaufen.
«Warum?»
«Man schmäht dich darin. Sie ziehen deinen Namen durch den Dreck.»
«Und deshalb soll ich sie kaufen?»
Er kauft sie nicht, denkt aber über die sonderbaren Wendungen seines Schicksals nach.
Wir können die Freiheit nicht dort erleben, wo wir unsere Knechtschaft erlebt haben
. «Nur um eine Lücke zu füllen oder des Rhythmus wegen schreiben wir mitunter Sätze, die sich im Lauf der Zeit als Prophezeiungen erweisen», notiert er.
«In einem konsequent geführten Leben», schreibt er, «kommt immer ein Augenblick, von dem an alles, selbst der Schmerz, selbst der Verlust, dir nur zum Besten dient; und in diesem Augenblick ergreift dich eine stille Scham, als ginge dir gerade die dir vom Unglück gewährte Unberührbarkeit verloren.»
«Ich werde aus der Nation ausgeschlossen, wie aus einem drittklassigen Internat, und das beweist, daß ich meine Leiden ‹gut genutzt› habe, wie Sterne sagen würde», schreibt er.
«In der Sozialismus genannten Fliegenfalle, in der die konformistischen Intellektuellen zappelnd im Honig der ‹weichen Diktatur› festklebten, habe ich niemand Sorgen gemacht: Man verließ sich darauf, daß ich mich selbst aus der gemeinsamen Drecklache, die sie Gesellschaft nannten, ausschließen würde», schreibt er.
Der alte Freund erwartet ihn heute verstört. Das Gesicht gerötet, die Zigarre bebt zwischen seinen Fingern. Er hatte gestern gesehen, wie zwei israelische Soldaten vor laufenden Kameras gelyncht worden waren.
«Ich hätte es nicht bis zu Ende sehen sollen», sagt er. «Das Blut floß, wiehernde Fratzen umringten die Qualen der Unglücklichen. Der Judenhaß läßt sich mit nichts auf dieser Welt vergleichen. Es ist der übelste Atavismus, der das alte Gemetzel immer von neuem entfesselt, animalische Brutalität, Raublust und schmutzigste Leidenschaften. Wer Jude ist, erblickt stets der Menschheit niederträchtigstes Antlitz. Wie lange kann man das noch mit heilem Verstand ertragen? Wie lange kann ein Jude, den permanenter Haß umgibt, sich seinen gesunden Menschenverstand bewahren? Und wer ist der unverschämte Heuchler, der Mäßigung, Bezwingung der Leidenschaften von ihm zu verlangen wagt unter Umständen, in denen Geduld geradewegs zum Untergang führt?»
«So habe ich dich noch nie gesehen», sagt B.
«So bin ich ja auch nicht», entgegnet der Freund. Er legt die Zigarre weg und bestellt ein Glas Rotwein.
«Hitler hat sein Werk nicht vollendet», murmelt er dann. «Man wird uns alle vernichten.»
«Jede Krankheit ist eine Seelenkrankheit oder wird zur Seelenkrankheit», schreibt er noch am selben Abend, bereits im Pyjama, kurz vorm Schlafengehen.
*
Eines Tages erwacht er mit einer ganz besonderen, bisher noch nie empfundenen Traurigkeit, die ihn tagelang nicht verläßt. Alles durchdringt sie wie Schwefelsäure; auch die Freude. Eine Zeitlang versucht er sich zu vertrösten: Vielleicht der Ausbruch seines Freundes neulich, seine unerwarteten Worte. Vielleicht das neue Medikament gegen den Tremor, das auch den Blutdruck senkt. Oder vielleicht ist – weil er ein paar Seiten in seinem Roman verpfuscht hat – sein absurdes Vertrauen in eine bis ans Ende aller Zeiten anhaltende Schaffenskraft erschüttert? Schließlich, denkt er, könnte es auch einen vierten Grund geben, und das ist der wahrscheinlichste: das Vorgefühl des nahenden Todes. Was weiß er darüber? Der Tod ist immer anders. «Du denkst über den Tod nach, aber eigentlich denkst du
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