Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)
nur, daß du über den Tod nachdenkst», schreibt er. «Wir denken im Laufe unseres Lebens zwar an den Tod, aber das, woran wir denken, ist nicht der Tod, sondern der Trost, die Verbitterung, die Lüge, die irrigen Vorstellungen des Lebenden. Wir können uns nicht vorstellen, wie es ist zu sterben. Und ein noch größeres Geheimnis ist der Tod selbst. Das Tier aber, das (glücklicherweise) in uns lebt, spürt ganz genau, wann der Tod an unser Bett tritt, wann er sich unserem Dasein nähert, wann wir anfangen müssen, uns auf ihn vorzubereiten. Und auch dann wissen wir nicht, worauf wir uns in Wirklichkeit vorbereiten. Nur die hereinbrechende große Traurigkeit, sie allein nimmt uns, so wie der Erzieher das Kind, an der Hand», schreibt er.
Von seinem Arbeitszimmer blickt er auf den Balkon. Die hoch aufgeschossenen, schlanken Zweige der Topfpflanze sind vom Winterregen geknickt, einem empfindlichen Herzen gleich, und fallen nun herab, wie eine ergebene Frauengestalt, mit ausgestreckten Armen, erschrocken und zugleich wollüstig darauf wartend, was mit ihr geschieht …
Durch die breiten Fenster des Krankenzimmers schaut man auf Wälder und auf den Fluß und die Stadt dahinter. Er steht neben Cynthias Bett, wartet, daß sie aus der Narkose erwacht. Der Chirurg sagt, es sei eine relativ kleine Operation gewesen. Er notiert Satzfetzen:
«Machen Sie sich keine Sorge, wir haben den kranken Knoten entfernt, und die Bestrahlung … Ja, das ist unvermeidbar, aber …»
Cynthia bewegt sich jetzt. Er beugt sich rasch über das Bett. Cynthia kommt langsam zu sich, erkennt ihn, versucht zu lächeln.
Manchmal trennt die Verzweiflung sie voneinander.
«Meine Mutter ruft nach mir», sagt Cynthia. Dann tut sich auf einmal eine Kluft zwischen ihnen auf, und er bleibt einsam und ohnmächtig diesseits des Abgrunds stehen, als sei die Brücke vor ihm zusammengestürzt.
«Vergiß die Toten!» versucht er hinüberzuschreien. Aber er weiß, daß es egal ist, was er sagt: Wenn Cynthia von ihrer Mutter spricht, hat B. das Gefühl, als seien sie zu den Wurzeln der Krankheit gelangt. Er würde diese verlängerte Nabelschnur gern durchtrennen, würde Cynthia gern gegen die Hölle ihrer Erziehung: das Schuldgefühl gegenüber der Mutter aufwiegeln.
«Tyrannei und Liebe sind nicht identische, sondern gegensätzliche Begriffe», sagt er. Doch in der Stille der Nacht, wenn er das Bett verläßt, um sich an den Schreibtisch zu setzen, zweifelt er bereits selbst daran.
Schon von der Tür aus erblickt er den alten Freund: sein Gesicht von den bettuchgroßen Blättern einer aufgeschlagenen Zeitung verborgen, auf dem Tisch weitere Zeitungen, ein Tablett, ein Glas Wasser, eine leere Kaffeetasse, ein Aschenbecher mit einem noch rauchenden Zigarrenstummel, zu seinen Füßen, wie schlaffe Segel, die darauf warten, daß Wind aufkommt, die herabgefallenen Seiten einer wahrscheinlich schon ausgelesenen Zeitung.
«In den westeuropäischen Ländern», beginnt er, «besagt der Gesellschaftsvertrag, daß die Behörden kontrolliert werden und die Menschen nicht willkürlich schikanieren können. Die Bevölkerung ist vor einem Straf-und Internierungslager-System geschützt, eine Diktatur kann nur auf ungesetzlichem Weg zustande kommen … und müßte bis zum Schluß mit ihrer Illegalität rechnen. Hier in Mittel-und Osteuropa dagegen hat sich die Demokratie noch nicht als Existenzbedingung erwiesen; es hat sich noch kein spürbarer Schutzinstinkt gegen die Willkür entwickelt. Was möchtest du?»
«Einen Kaffee», sagt er.
«Einen Kaffee!» echot der alte Freund, und die Kellnerin eilt mit der Bestellung davon. «Im Gegenteil», fährt er nach dem kurzen Zwischenspiel da fort, wo er aufgehört hatte, «es haben sich eher jene Instinkte entwickelt, die der Überlistung durch eine Willkürherrschaft dienlich sind, dem Fortbestand und Überleben autoritärer Macht … Hörst du mir überhaupt zu?»
«Aber sicher», antwortet er.
«Gibt es irgendein Problem?» fragt der alte Freund, und auf dem seit Jahrzehnten vertrauten Gesicht erscheinen Sorgenfalten. Erst jetzt hat er bemerkt, daß sein Freund heute eine lila Fliege zum braunen Anzug trägt.
«Es ist nichts», antwortet er. «Ganz bestimmt», bekräftigt er. «Wirklich nicht», fügt er noch ein drittes Mal hinzu.
Cynthias Genesung feiern sie im Séparée des Dorchester. Sie sind hier, in London, Gäste des wahrscheinlich letzten
grand seigneurs
auf der Welt, eines Herrn aus Chile,
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