Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)
veränderte Welt sehr viel besser demonstrierende Geschehnisse; dennoch, nach Jahrzehnten stumpfsinniger Gebundenheit an die Scholle ergreift ihn jetzt zum ersten Mal wirklich die zerbrechliche Freude am phantastischen Abenteuer der Freiheit.
Er lebt müßig, als hätte er zuviel Zeit. Liest ein paar Seiten aus
Der Idiot
, betrachtet van Goghs
Selbstportrait
aus Saint-Rémy, erwacht morgens neben Cynthia. Wer wird meinen Roman schreiben, fragt er sich besorgt.
«Wenn du einmal gesehen hast, wie ein Rudel Hyänen ein lebendiges Gnu zu Tode hetzt und dann auffrißt, machst du dir keine Illusionen mehr über die Grundgesetze unserer Existenz», sagt sein alter Freund. Sie sitzen am gewohnten Ecktisch, und während der Freund von der gestrigen Tiersendung im Fernsehen berichtet, schaut er in den eintönigen grauen Regen hinaus.
«Und das Glück?» fragt er fast verschüchtert.
«Auch das Glück ist nur ein Teil des Grauens», antwortet der Freund, ohne einen Augenblick zu zögern.
«Die Frage», sagt B., «ist trotz allem, ob das Ganze gelohnt hat, ob das Ganze es lohnt.»
«Du sprichst, als hättest du die Wahl. Vergiß nicht, daß du nicht aus eigenem Willen auf der Welt bist, sondern aufgrund der Willkür deiner Eltern, die sich ausmalten, wie sie mit einem Kleinkind spielen würden.»
«Reden wir von etwas anderem», sagt B.; es scheint, als verstimmten ihn neuerdings Erkenntnisse, die ihm einst eher Freude bereiteten.
«Mit der Zeit veränderst du dich bis zur Unkenntlichkeit. Du wirst dankbar sein für jedes Wort, jeden Buchstaben, der an dich erinnert. Dein Leben gleitet dir aus der Hand wie die zu einem Fluß voller Laichkräuter gewordene Zeit. Das Gefühl, daß du etwas falsch gemacht hast, begleitet dich wie dein Schatten. Und nichts hilft, nichts kommt wieder zurück», schreibt er.
*
Während ihn der Zug durch die Niederungen Mecklenburgs führt, dunkelt es langsam. Er sitzt allein in einem Abteil erster Klasse. Soeben hat der Schaffner Erfrischungen gebracht, auf den Klapptisch Teller, Glas und eine schlanke Flasche gestellt, die sich plötzlich beschlägt. Er ist seit den Morgenstunden unterwegs und weiß, daß man ihn in der Stadt R. vom Bahnhof direkt zum Schauplatz der Lesung bringen wird, er wird nicht einmal Zeit haben, das Hemd zu wechseln. Draußen huschen Lichter vorbei, allem Anschein nach wohlbestellte Felder, das unsichtbare Landschaftsbild von ins Dunkel getauchten Dörfern und Städtchen. Er ist mutlos und schläfrig. Doch plötzlich blitzt ein Satz in ihm auf: «Der nächtliche Reisende». Und dieser Satz bringt alles in Ordnung. Auf einmal erblickt er in dem dämmrigen Abteil den Schattenriß eines Mannes, der in der Weltordung der Dienstleistungen seinem Ziel entgegeneilt; und hinter dieser Weltordnung dämmert die Möglichkeit eines sicheren und berechenbaren menschlichen Lebens auf, das seine wahre Realität durch ein Frauengesicht gewinnt, eine Frau, die wir lieben und die irgendwo auf uns wartet. «In diesem Augenblick ist der böse Zauber von vierzig Jahren zerbrochen», notiert er später.
Er sitzt allein am Ecktisch. Draußen winterlicher Sonnenschein. Er bestellt einen starken Kaffee. An einem Tisch in der Nähe ein unauffälliges junges Liebespaar. Die Hände verschwinden ab und zu unterm Tisch. An anderen Tischen wird Zeitung gelesen. Man bringt seinen Kaffee. Ein seltsames Staunen ergreift ihn: Sieh an, hier sitzt er und lebt wahrscheinlich. Auch die anderen leben offenbar. Er hat das Gefühl, daß all das sein Vorstellungsvermögen übersteigt. «Sei dir darüber im klaren», schreibt er in das ständig mitgeführte Heft, «daß du verschwinden wirst. Diese Welt und die aus ihr resusltiernde Zukunft bewahren nichts. Deine Muttersprache verstößt dich, und dort, wo du noch etwas zu sagen hast, wird man dich bald nicht mehr verstehen. Du mußt ernsthaft damit rechnen, daß alle deine Anstrengungen umsonst waren. Ändert das etwas am Wesentlichen, beeinflußt es – um ein großes Wort zu gebrauchen – deine schöpferische Leidenschaft? Sicher nicht. Teils als Besessener, teils als rationaler Zweifler möchtest du abschließen, was du begonnen hast. Warum, frage man nicht, vor allem nicht dich …»
Die Nacht wird illuminiert, die Welt feiert. Jahrtausendwechsel … Was stand bei Anbruch der Zeiten auf dem Tempel Apollons geschrieben? «Erkenne dich selbst!» Wozu? Zu welchen Zweck? «Unser Held und Hauptdarsteller, der Mensch, wird verschwinden.
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