Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)
der globale Großunternehmen, großzügigen Lebensstil, Frauen, Kunst und gute Küche gleichermaßen liebt. Später, als er, wieder zu Hause, in einem Turner-Band blättert, vergleicht B. die Gemälde mit den eigenen Erinnerungen: dem verschleierten Londoner Morgenlicht, den über dem Rasen des Hyde-Parks schwebenden Nebelfetzen, die sie aus dem Hotelfenster sahen. Warum wurden für Turner im Alter Farben und Licht allmählich wichtiger als saubere, alles be-und abgrenzende Linien? Und warum wirkt das so authentisch? Gibt es etwas, denkt er, das wir allgemein «Altersstil» nennen könnten? Turners Sehkraft verschlechterte sich angeblich sehr. «Aber Beethoven schrieb seine letzten Quartette auch, als er schon taub war», schreibt er. Er legt den Kugenschreiber nieder, schaut auf den winterlichen Garten. Er denkt an Turners Totenmaske, an die sich allgemein auf den Totenmasken spiegelnde «letzte Heiterkeit». Mag sein, denkt er, daß Mihály Babits recht hatte: «Vielleicht ist der Tod gar nicht so eine große Angelegenheit.»
Er geht zur Klinik, um die Untersuchungsergebnisse zu erfahren: Parkinson-Krankheit, lautet die nunmehr endgültige Diagnose. «Ein Mann schlurfte über den Korridor, mit trippelnden Schritten, ausdruckslosem Gesicht, ausgefransten Pantoffeln: meine Zukunft», schreibt er.
«Im Alter schätze ich gute Metaphern mehr als gute Logik», schreibt er.
Auch seinem alten Freund berichtet er von dem Turner-Erlebnis. Der pflichtet ihm bei.
«Auch heute gibt es gute Kunst, ja, sogar vortreffliche, aber keine große Kunst», sagt er.
«Groß, groß! Könntest du definieren, was das ist?»
«Nein», gibt der alte Freund zu. «Aber soviel ist sicher, das Große enthält alles Irdische, während es selbst schon überirdisch ist. Es kann nichts dafür, daß es groß ist. Es kann einfach nicht mittelmäßig oder auch bloß gut sein. Deswegen fehlt es auf der heutigen Palette», er wird lebhafter, «die das Gute hinnimmt, das Mittelmäßige feiert, aber das Große niedertritt.»
«War es nicht immer so?
«Nein», der alte Freund schüttelt den Kopf und tastet mit der goldberingten Hand seine Taschen ab, offenbar das Zigarrenetui suchend.
«Wer bei gesundem Verstand bleibt und gleichzeitig noch Glück hat, stirbt so, wie das Kind sein Spielzeug zurückläßt, wenn es am Abend ins Bett geschickt wird: sich einerseits sträubend, andererseits schon mit halbgeschlossenen Augen. Zwar tröstet man es, daß es sein Lieblingsauto am nächsten Tag wiederfinden wird, aber das Kind glaubt sowenig an morgen wie der Sterbende», schreibt er. Nach einer durchwachten Nacht schaut er von seinem Schreibtisch auf den glasklaren, hellblauen Tagesanbruch im Frühling; ein Fußgänger auf der Straße hinter dem Garten weckt in ihm ferne Erinnerungen an morgendliche Gerüche, Kaffee, hastiges Sichankleiden, keuchende Eile, Lichter der Frühe, dämmernde, dann immer bestimmter werdende Farben. Im Rausch seiner Schlaflosigkeit fühlt er sich, als liege eine trunkene Nacht hinter ihm. Er versucht zu arbeiten.
*
Er hat das Gefühl, daß seine Romanfigur geisterhaft und ihre innere Welt nicht darstellbar ist. «Der Selbstmord folgt keiner Logik, nur der Dramaturgie», schreibt er.
«Daß ich die Figur gewissermaßen ‹kalt› erfinde, davon kann keine Rede sein», schreibt er.
«Der Selbstmord», schreibt er, «rührt vielleicht aus der Erkenntnis einer großen Lüge; die Erkenntnis einer großen Wahrheit spornt eher zur Fortsetzung des Lebens an.» Wenngleich die große Lüge und die große Wahrheit nur zwei Seiten ein und derselben Sache sind, denkt er später.
Eines Abends ermißt er die Entfernung zwischen Balkon und Asphalt. «Ich ekelte mich», schreibt er.
«Schluß machen oder weiterleben, das ist einfach eine Frage von Charakter, Temperament und Gelegenheit; manchmal bleiben wir nur deshalb am Leben, weil uns die geeigneten Mittel fehlen», schreibt er in sein Notizheft.
Vorzeitige, schwüle Hitze. Die Sonne lastet über dem Friedhof wie geschmolzenes Metall. Wegen der Menge kann man die Totenbahre nicht sehen. Plötzlich wird es still. Nacheinander treten die professionellen Grabredner auf und erfüllen wie Henker ihre schreckliche Pflicht. Die gelblichen, von Schwielen geplagten Fersen, die unter dem langen Ornat der reformierten Pastorin offen hervorlugen, entgehen B.s Aufmerksamkeit nicht. In ihrer Trauerrede sagt sie so etwas wie: der Tod sei die «endgültige Trennung»
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