Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)
Wiewohl er nicht völlig verschwinden kann: Und das wird der Konflikt der Zukunft sein», schreibt er.
Mit Interesse liest er in einer deutschen Zeitung, daß «Gerbert (Papst Sylvester II .) gegen Ende seines Lebens in einem Brief behauptete, alles vergessen zu haben, was er in seinen jungen Jahren gedacht und gelesen hatte» (
FAZ
, Feuilleton vom 29 . Dezember, notiert er gewissenhaft).
Er liest zuviel Zeitung. Während er am Ecktisch sitzt, blättert er gelangweilt darin. Die ausländischen kauft er in einem auf dem Weg liegenden Hotel. In der
Neuen Zürcher Zeitung
stößt er auf einen Artikel über die vielen Seiten und unterschiedlichen Wurzeln jüdischer Identität. Von den östlichen Orthodoxen bis zu den modernen liberalen Intellektuellen der europäischen und amerikanischen Städte. Dann die verschiedenen Abarten des Zionismus: Was hat er mit alldem zu tun? Spürt er, spürte er jemals die «Rasse», die 5000 Jahre und den entfernten Kontinent? Er lebt eher in einem symbolischen Judentum, das von Auschwitz, seiner kulturellen Wurzellosigkeit und seinen westlichen Sympathien bestimmt wird. Keine religiöse Bindung, keine «Volks»-Gemeinschaft. Er stellt fest, daß seine Denkweise nicht typisch jüdisch ist (falls es überhaupt eine typisch jüdische Denkweise gibt); mit einem Wort, er denkt nicht über «jüdische Dinge» nach. Nach seiner Überzeugung denkt er genauso wie die anderen, normalen, christlich geprägten Europäer, nur wurde er zufällig in die Lage hineingeboren, die hier für gebürtige Juden aufrechterhalten wird. – «So redet jeder, der seine Unschuld beteuert», schreibt er später.
Beginnende, noch leichte Parkinson-Krankheit. Die Gehirnadern sind rein. Ultraschall am Hals: beginnende, noch leichte Verkalkung. Die Handbewegungen werden allmählich unberechenbar.
Der Budapester Winter, wie geschmolzenes Blei … Selbst der Schnee ist grau. Am Vormittag setzt er sich an seinen Tisch, tut überhaupt nichts und fühlt sich am Nachmittag trotzdem müde. Dabei wollte er doch schreiben, einige Sonderbarkeiten seiner Jugend beziehungsweise seine sonderbare Jugend beschäftigen ihn. Er kann sich, wenn er an seine Kinderzeit denkt, nicht in seine kindliche Denkweise zurückversetzen. Schon damals beschäftigten ihn Probleme, nur eben Kinderprobleme. Jahrzehnte später lernte er Duchamps unsterblichen Satz kennen:
Es gibt keine Lösung, weil es kein Problem gibt
.
*
«Leben», schreibt er. «Musizieren, lesen», schreibt er. «Einen Witz erzählen, nur um die vom Lachen aufblitzenden Zähne einer Frau zu sehen», schreibt er.
«Das Leiden Márais im Spiegel seiner
Tagebücher
und von
Land, Land
! Immer gibt es Menschen, die ihre Schulter unter den mit dem Einsturz drohenden Globus stemmen», schreibt er.
Er beginnt sich daran zu gewöhnen, eine öffentliche Existenz zu führen. Er muß einen Schriftsteller darstellen, der für ihn nicht existiert. Von seiner Arbeit, seinen Werken, hat er nur eine vage und entfernte Vorstellung und ist selbst mit größter Kraftanstrengung nicht fähig, seine Rolle überzeugend zu spielen. Am nächsten Tag fällt er wieder zurück in die Situation des Niemand, der schreibt und Fehler macht und mit dem er sich identisch fühlt.
In Andalusien, in den Bergen, entdeckt Cynthia in der Bar eines Städtchens namens Casares, in die sie von Durst getrieben eingekehrt waren, an der Wand ein Aquarell, ein Portrait, das Kafka darstellt. Hinter der Theke ein bebrillter, intellektuell wirkender Schankbursche. Lächelnd nickt er: Ja, er hatte es selbst gemalt, aufgrund des berühmten Fotos … – Am Grenzübergang nach Gibraltar ein englischer Polizist mit dem charakteristischen, gleichsam vom Nacken in die Stirne gerutschten englischen Helm. Er nimmt die Pässe entgegen. Die unvergleichliche höfliche englische Arroganz, «authentisch und vernichtend», wie er später schreibt.
«Das Glück», schreibt er heute morgen, «ist wie eine Meeresflut, die aufgrund geheimnisvoller Kräfte: des Mondes, rätselhafter Winde und Wasserströmungen, plötzlich in einem emporschlägt, anscheinend sogar ohne jede unmittelbare Ursache, Herz und Hirn durchspült und uns mit der allem innewohnenden großen Freude vereint, der wir letztlich unsere Existenz, unser Leben verdanken …»
In der Nacht setzen sie sich auf den Balkon, der auf den Garten und die weiter entfernte, bebaute Anhöhe blickt. Flüsternd unterhalten sie sich unter dem dämmernden
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