Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)
vom Leben, vom Lebendigen. Das erstaunt ihn; sollte es bei den Reformierten keine Auferstehung geben? Oder ist die geistliche Dame eine radikal gesinnte Klerikerin? Der trauervolle Ton der Grabreden und die obligatorischen Trauermienen sind die schlimmsten Hindernisse, um des Toten wirklich zu gedenken, denkt er. Der Leichenzug setzt sich in Bewegung. Er und Cynthia passen rasch ihre Schritte aneinander an. Sie gehen Hand in Hand. Sie schwitzen. Über Cynthias Gesicht läuft eine Träne des Toten wegen, den sie liebte, und B. kann nur schwer der Versuchung widerstehen, sich – gleichsam zum Trost – auszumalen, wie Tränen über dieses reine und schöne Gesicht strömen werden, wenn man ihn, B., einmal begraben wird.
Eines Tages fällt ihm auf, daß er in letzter Zeit ausschließlich Exilliteratur liest. Tagebücher, vor Hitler und nach Hitler, Flucht vor dem erlösenden Sozialismus und diversen Diktaturen, die Geschichte von Exilverlegern, das Schicksal von Exilautoren. Der erschütternde Briefwechsel zwischen Miłosz und Venclova. «Überall ergibt sich das gleiche», schreibt er, «einer geht und nimmt die heimische (baltische, polnische oder ungarische) Kultur mit sich, die unterdessen von den daheim Gebliebenen zerstört wird. Im allgemeinen pflegen sie die sogenannte Geschichte dafür verantwortlich zu machen, so als sei das eine Art göttlicher Gewalt, eine dem Menschen fremde, ihn verschlingende Macht; dabei wissen sie wohl, daß die Zeit abgelaufen ist. Und sie ist nicht deshalb abgelaufen, weil andere kamen, eine neue Generation, eine Besatzungsmacht, sie pflegt vielmehr deshalb abzulaufen, weil sie sie selbst nicht zu nutzen verstanden. Das ist auch die Wurzel des wild aufflammenden Nationalismus der osteuropäischen Völker. Dieser Nationalismus ist wie eine Schutzreaktion des Organismus – hohes Fieber zum Beispiel, das zur Bekämpfung einer Krankheit dient –, die dann, ihre ursprügliche Funktion vergessend, den Menschen tötet», schreibt er.
«Der Schriftsteller», schreibt er, «ist, wenn er anständig ist, immer ein Besitzloser. Er weiß, daß er nichts hat und nichts weiß.»
«Das Eingeständnis der Schuld und das Ermessen des Verlustes sind der Anfang jedes höher qualifizierten Lebens, auch der Nationen», schreibt er.
Wie ist es möglich, daß er, B., noch immer und trotz allem normal geblieben ist? Ist das in einem gewissen Sinn nicht unmoralisch? Oder ist vielleicht gerade diese öde Nüchternheit mein Wahnsinn, fragt er sich.
Die Nazis, überlegt er weiter, mußte ich überleben. In der Zeit des Bolschewismus war nicht viel Hoffnung auf Überleben, das System sah nicht so aus, als sei es am Ende.
«Aber Sie haben seine Existenz nie akzeptiert», sagt Cynthia, die damals im Westen, im märchenhaften Westen lebte, «und das dürfte schwer gewesen sein.»
«Es war nicht schwer», antwortet er, und eigentlich war es auch nicht eine Sache der Tapferkeit, sondern nur des Geschmacks. Er konnte sich einfach nicht in die Gedankenwelt einfügen, konnte sich nicht die Sprache angewöhnen, war unfähig, sich in dem einzurichten, was man normales Leben nennt: Er gründete keine Familie, schuf sich keine sogenannte Existenzgrundlage. Mehr als vierzig Jahre vergingen so. Es scheint eine glorreiche Geschichte zu sein, doch aus einem anderen Blickwinkel betrachtet, ist es die nicht wiedergutzumachende Geschichte einer Frau, die er nie glücklich machen konnte …
*
Am Vormittag, als sie auf einer Krankenhausbank auf den Befund wartete, habe sie plötzlich das entschiedene Gefühl sicheren Lebenswillens ergriffen, sagt Cynthia. Sie sitzen auf dem Balkon, in der Stille der Herbstnacht. Sie habe eine besondere Kraft verspürt, fährt Cynthia fort. Sie sprechen flüsternd, wägen die Lebenschancen ab. Hin und wieder raschelt ein unsichtbarer Baum, fallen ein paar Blätter.
Die Morgendämmerung findet ihn vor dem Computer. In ihm wirken Schlafmittel, von denen ihm schwindelt, die ihn jedoch nicht betäuben. Aus dem Zimmer hört er das ruhige Atmen Cynthias. «Für einen, der nicht liebt, ist es einfacher», schreibt er.
Der menschliche Organismus besteht aus Zellen, und dieses Zellenkonglomerat nennen wir Ich. Die Zellen existieren und agieren in uns ganz autonom, nach ihren eigenen Gesetzen oder – wenn man so will – ihren eigenen Launen. Sie verbinden und teilen sich, initiieren oder durchlaufen Mutationen usw.
«Aber das ist ja schrecklich!» bemerkt B.
Sein
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