Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)
Freund, ein weltberühmter Biologe, sieht ihn erstaunt an.
«Warum?» fragt er, während seine Gabel, die er gerade in einen Rindsbraten hineinstoßen wollte, in der Luft stehenbleibt.
«Weil wir demnach in gar keiner Beziehung zu unserer Krankheit stehen.»
«Wie meinst du das?»
«Sie hat gar keine moralische Existenzberechtigung», versucht er seine wirren Gefühle zu artikulieren. «Sie hat nichts mit unseren Handlungen zu tun, nichts mit unseren Tugenden oder unseren Lastern. Wir können keine Verantwortung für sie übernehmen, weil sie ja nicht aus uns entspringt, sondern aus der Verirrung der Zellen, und so kriegen wir die Krankheit zwar, wie man zu sagen pflegt, aber sie ist nicht unser. Sie hat keine Metaphysik», fügt er hinzu.
«Metaphysik?», der Gelehrte schaut ihn entsetzt an. «Was soll das?»
B. schweigt. «Wenn uns aber», sagt er dann, «die Zellen auf blinde und absurde Weise beherrschen, dann ist das Leben doch nicht ganz ernst zu nehmen.»
«Ich sehe keinen Widerspruch», der Gelehrte lächelt und macht sich über den Braten her.
Das Abendessen, der Wein und das Gespräch rufen bei ihm schließlich eine seltsame Perspektive hervor, in der Nahes und Fernes so ineinanderfließen, daß er sie kaum noch zu unterscheiden vermag. An diesem herb riechenden Herbstabend wirkten die bekannten Gesichter fast unwahrscheinlich im Spiel der Schatten, die der Lampenschein von Möbeln, Menschen, Gläsern und Schüsseln an die Wände warf; das Dämmerlicht zeigte alles schön, mild und unwiederbringlich, wie auf dem letzten Bild eines großen Malers. Diese Gesichter waren schön, als wären es nicht die gewohnten Gesichter ihrer Besitzer. «Die Melancholie des Abschieds spiegelte sich auf ihnen, obzwar sich niemand verabschiedete», schreibt er. «Dem Anschein nach», fügt er nach kurzem Nachdenken hinzu.
Er blättert in seinen alten Manuskripten und Heften. Widerstrebend. In einem der Hefte stößt er auf die Anfangszeilen einer virtuellen Autobiographie: «Das Zeitalter war unfruchtbar, der Mutterschoß fruchtbar: So kam ich am Vormittag des 9 . Novembers 19 .. auf die Welt. Von meinem Vater weiß ich, daß er meiner Mutter einen Korb roter Rosen ins Krankenhaus schickte.» Er erinnert sich weder an den Text noch an den Plan. Nur soviel ist geblieben. Es reicht auch, denkt er. «Die Fortsetzung würde doch nur von einem ununterbrochenen Niedergang handeln.»
Was will er eigentlich von B., dieser dritten Reinkarnation B.s? Unter den Papieren findet er eine Notiz:
Die Figur zerrütten, zermalmen, zernichten
. Woher kommt diese Wut, diese kalte Zerstörungslust? Kann es sein, daß er töten muß, um sich selbst mit dem Tod anzufreunden? Es scheint so. Er muß sehen, wie die Natur funktioniert, damit er lernt, sie nachzuahmen und schließlich zu akzeptieren.
Diesen B. hat er also auserkoren, um ihn als Vorposten in den Tod zu schicken.
Es stellen sich einige praktische Fragen. Zum Glück – oder vielleicht Unglück – ist dieses Tagebuch da, B.s Tagebuch: Auf diesem schmalen Pfad muß man ihm folgen (mit der scharf geladenen Pistole in der Hand gleichsam).
Er nimmt den streng gehüteten Stoff seines Lebens mit sich (seine Erinnerungen, seine Illusionen vom Dasein und der eigenen physischen Realität) und verschwindet damit im Nichts. Raubt ihn.
Will er es so, oder «nimmt er bloß die Konsequenzen auf sich»? Ja, er nimmt sie auf sich, um alles aufs Spiel zu setzen, wenn das der Preis der Verkörperung ist.
Unter dem Begriff «Verkörperung» versteht er hier nicht die (höchst zweifelhaften) physischen Tatsachen, sondern, ganz im Gegenteil, sein eigenes imaginäres Abbild. Wenn überhaupt etwas, dann betrachtet er allein das als
Wirklichkeit
.
Die Frage ist: Inwieweit kann es einer aus Worten bestehenden Figur gelingen, ein aus physischen Tatsachen bestehendes menschliches Wesen zu verkörpern, das ein in Kilo meßbares Gewicht hat, einen beträchtlichen Umfang und eine, sagen wir, lila Fliege trägt? Er erinnert sich, daß ihn, kaum daß er der Kindheit entwachsen war, dieses Problem zu beschäftigen begann. Er wollte sein Leben sofort auf eine aus Worten erstehende Figur abwälzen, die ihn verkörpern könnte. Warum war das für ihn wichtig? Er wußte es nicht, stellte sich damals diese Frage nicht. Ihn trieb der Zwang, sich zu artikulieren, und er stieg auf dieses Roß.
Dieser B. hier ist der schäbige letzte Reiter.
An einem kalten Herbsttag
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