Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)

Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)

Titel: Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Imre Kertész
Vom Netzwerk:
Krug in Dahlem. Man bezeugte mir große Ehrerbietung, was mich, wie immer, auch jetzt wieder etwas störte: Es fällt mir schwer zu akzeptieren, daß meine Bücher den Menschen tatsächlich etwas geben; mich begleitet unentwegt ein Gefühl von Hochstapelei; ich verhalte mich wie der Imitator meiner eigenen Rolle, meine Bewegungen sind gezwungen, ich rede und habe überhaupt nichts zu sagen. Ich glaube, ich bin so sehr an schlechte Behandlungsweisen gewöhnt, daß ich sie für natürlicher halte als Anerkennung; meine schnöde Erziehung unter den Ungarn hat mich zu tief durchdrungen.
    Spät zu Bett, leichtes Schlafmittel, um zwei Uhr bin ich erwacht, ging in mein Turmzimmer hinauf und setzte mich an den Computer. Jetzt ist es 3 Uhr 45 . Ich müßte schlafen, kann aber nicht.
     
    Heute: vormittags halb 12 Treffen mit dem israelischen Botschafter im Literaturhaus. Sympathisches Gesicht, grauer, sehr gepflegter Bart, eleganter Anzug. Er war neugierig, was für ein Jude ich wirklich sei. Meine Magdeburger Rede hatte ihn aufmerksam auf mich gemacht. Er stammt aus einer orthodoxen Czernowitzer Familie, hat aber selbst genug vom Glauben, ist sogar Atheist. Ich fragte ihn, wie das sei, denn wenn sich die Nicht-Existenz Gottes voraussetzen ließe, dann ließe sich doch auch dessen Existenz voraussetzen. Er ist noch jung, 1948 geboren. Fragte nach meiner Meinung, ob Herzl, wenn er noch lebte, seine eigene Arbeit, die zur Gründung des jüdischen Staates führte, als Fiasko oder als Erfolg betrachten würde. Er selbst ist sehr pessimistisch. Man ziehe Israel zur Rechenschaft dafür, daß es mit seinen Nachbarn nicht so umgehe, wie es einer Demokratie gezieme, andererseits seien die Nachbarn ja bei weitem keine Demokraten: Israel sei schließlich nicht von Holland und Dänemark umgeben. Ich sagte, das sei nur ein Vorwand für Judenhetze. Nach seiner Ansicht hat der Antisemitismus in Europa eine Tradition, die man schon fast als genetisch ansehen müsse. Dem kann ich zwar nicht zustimmen, muß aber einsehen, daß ich über keine grundsätzlichen Gegenargumente verfüge. Mir schien, letzten Endes gefiel ihm mein Standpunkt; der europäische Jude, den ich repräsentiere, gehört einer schwindenden Minderheit an und wird im Zuge von Mischehen und Konversion auch zweifellos verschwinden, sofern er nicht vorher ausgerottet wird. Wir dachten an das beängstigende Vordringen des Islam; angeblich treten in Amerika, wie auch in Europa, viele Jugendliche zum islamischen Glauben über. Er erzählte noch, daß Israel anfangs die «Galut-Mentalität» vermeiden und keinesfalls das Bild vom Märtyrerjuden, vom «Opfer», aufkommen lassen wollte; doch die Vergangenheit habe das Land eingeholt, seine heutige Isoliertheit habe den längst überwunden geglaubten Schrecken des Ghettos wiederaufleben lassen, das Gefühl, einer nicht-jüdischen, feindlichen Umgebung ausgeliefert zu sein. Trotz allem war das Gespräch nicht deprimierend, eher so etwas wie der Gedankenaustausch durchblickender Menschen, die, im Luxus lebend, die Nähe einer tödlichen Gefahr erwägen und sich dabei noch eine Portion Sahne zum Kaffee bestellen.
    In der
FAZ
neue Artikel über die Krise des Suhrkamp Verlags;
Liquidation
stagniert dort, wird vernachlässigt, ist trotz großartiger Kritiken nicht verkaufbar.
    Sonst geschah jetzt nichts, am Nachmittag schlief ich, und bis zur morgigen Pressekonferenz habe ich «Ausgang», ich genieße es, diese paar Zeilen schreiben zu können; neuerdings fällt es unter das Stichwort Luxus, wenn ich schreiben kann.
     
    7 . Dezember 2003  Morgens sieben Uhr. Aus dem nach Westen gehenden Fenster meines Turmzimmers sehe ich, wie es am Himmel über den Dächern Berlins zu dämmern beginnt. In der Ferne der goldschimmernde Funkturm, nicht weit davon das Blinklicht, wie ein Leuchtturm im Hafen, weiter vorn macht sich die «Pyramide» (das Hochhaus in der Uhlandstraße) breit, grau, mit hellen Fensterreihen. Fünf Stunden Schlaf, von nachts halb zwei bis morgens halb sieben. Wahrscheinlich zuwenig. Da ich mit ständiger innerer Erschöpfung kämpfe. Ich versuche, den gestrigen Tag in Stichworten zu rekonstruieren (wobei ich nicht weiß, ob das nötig ist, ich weiß nicht, ob mich mein Trivialtagebuch nicht frustriert, ob es der
Letzten Einkehr
nicht die Chancen verdirbt).
    Also: Gestern morgen um zehn Lajos Koltai; er kam zu uns ins Penthouse. Zeigte die für den Film vorbereiteten Zeichnungen, Szenen und Figuren. Wir sprachen etwa anderthalb

Weitere Kostenlose Bücher