Letzte Einkehr: Tagebücher 2001-2009 Mit einem Prosafragment (German Edition)
Stunden über den Film. In einer Woche beginnt er die Szene mit dem Abendessen zu drehen. Das Holocaust-Komitee hat, wie er berichtete, nicht ganz ein Fünftel der beantragten Summe zur Finanzierung des Films bewilligt, von irgendeinem Filmkomitee der Europäischen Union erhielt er jedoch überraschend eine mächtige Summe; das erstaunt mich nicht. Es herrscht eine merkwürdige Ordnung auf der Welt. Aber sie ist immer noch zu verstehen. (Zumindest meine ich, sie interpretieren zu können.) Mir scheint, Koltai hat eine entschiedene Vision von dem Film. Vorerst scheint die Gefahr des Sentimentalismus nicht zu bestehen. «Gefühlvoll, aber nicht sentimental», hieß unser Zauberwort. Koltai, mit seinem runden, einnehmenden Gesicht, seiner schmalrandigen Brille, seiner Erzählfreude und seinem stets zu Rührung geneigten Gemüt ist wie der Bote einer vergnügten Gottheit, als Trost für all die Schlechtigkeit, die in der Welt um sich greift. – Dann brachen wir auf, fuhren mit dem Taxi zum Sony-Center, wo die Pressekonferenz begann. M. immer und überall mit mir. Acht oder zehn Journalisten, vielleicht auch ein paar mehr. Ich fürchte, ich habe zu sehr betont, daß der Film kein Holocaust-Film wird. Man könnte es mißverstehen und glauben, daß ich die Wurzeln meines Werkes «verleugne». Gleichwie. Wir aßen dort zu Mittag, es hieß, daß auch in Budapest noch eine Pressekonferenz stattfinden müsse, und ich dachte mit Bangen an mein ohnehin überladenes Budapester Programm, besonders im Hinblick auf die Reemtsma-Rede, mit der ich noch nicht einmal angefangen habe.
Gegen halb vier waren wir wieder zu Hause, um vier kam Besuch (Sharon, M.s Freundin aus dem Chicagoer Büro in Brüssel). Von den drei Sprachen – Englisch, Französisch und Italienisch –, die sie für die Unterhaltung anbot, spreche ich zu meiner Schande nicht eine. Nach einer halbstündigen Höflichkeitsfrist ging ich hinauf in mein Turmzimmer und tat, als arbeitete ich, in Wahrheit döste ich ein bißchen. Abends um sieben Uhr Dr. Harsányi und Frau, die M. nach Berlin eingeladen hatte. Abendessen bei Dressler, in meiner Verzweiflung und Zerstreutheit verspeiste ich sechs Austern. Harsányi hielt heldenhaft mit und gestand, diese Meeresdelikatesse zum ersten Mal in seinem Leben zu probieren. Auf dem Heimweg über den Kurfürstendamm kommt heraus, daß Parkinson eventuell doch nicht die richtige Diagnose sei. Harsányi zufolge fehlen zwei Symptome: das schlechte Laufen und das wächserne Gesicht. Er meinte, ich solle es mit einem Neurologen hier in Berlin versuchen. Nach den Feiertagen werde ich seinem Rat folgen. Gegen Mitternacht schleppten wir uns nach Hause, M. war müde, aber wir unterhielten uns noch ein wenig. Am Ende des Tages stellte ich verzagt fest, daß ich eigentlich nichts getan hatte.
8 . Dezember 2003 Wieder früher Morgen, 5 Uhr 45 . Die Rekonstruktion des gestrigen Tages: Am Morgen legte ich mich gegen zehn hin, schlief bis halb zwölf; M. weckte mich mit dem Frühstück, danach große Arbeitslust, doch M. ließ mich wissen, daß um sechs Uhr Sz.s kämen, die wir zum Abendessen ausführen müßten. Kurzer Wortwechsel, weil mir so kaum Zeit zum Arbeiten bliebe; ich ließ jedoch bald von den Vorwürfen ab, weil mir schien, daß M. sich nicht wohl fühlte. Ich ging allein spazieren, in der segensreichen Wintersonne, dann nach Hause, und hatte kaum ein paar Notizen für die Reemtsma-Rede gemacht, als bereits die Gäste kamen. Wir gingen ins Thai-Restaurant, ich vergaß meinen Ärger und fühlte mich wohl. Zu Hause angekommen, Anruf bei Ligetis, dann M.s selbstlose Entscheidung: Sie willigt ein, daß ich Weihnachten hier in Berlin verbringe; so werde ich vielleicht in der Lage sein, die Reemtsma-Rede zu schreiben, diesem inzwischen anspruchsvoll gewordenen Material eine Form zu geben. Vor dem Schlafengehen entdeckte M. häßliche, rot entzündete Allergieflecken an ihrer Hüfte. Wir müssen heute unbedingt zum Arzt gehen.
Abends halb acht: Der gute Doktor Freiherr von Brück war bei uns: M. hat eine Gürtelrose, zum Glück eine beginnende und vielleicht in absehbarer Zeit kurierbare. Jetzt versuche ich, ein paar Gedanken zur Reemtsma-Rede zu notieren, bis jetzt habe ich nichts gemacht, nur auf den Arzt gewartet, die Medikamente geholt und Abendbrot gegessen. In der
Frankfurter Rundschau
von letzter Woche ein fürchterlicher Artikel über den Antisemitismus in Frankreich.
9 . Dezember 2003 M.s Gürtelrose. Den ganzen
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