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Letzte Nacht in Twisted River

Letzte Nacht in Twisted River

Titel: Letzte Nacht in Twisted River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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der Planierraupe eingedellt. Die Lombard ragte aus einem Gestrüpp von Himbeerbüschen; sie glich dem geschändeten Kadaver eines Dinosauriers oder einer anderen ausgestorbenen Spezies.
    »Wenn man einen Ort loswerden will, sollte man ihn abbrennen!«, schimpfte Ketchum. Carmella trottete in einigem Abstand hinter ihnen her und blieb immer wieder stehen, um die Kletten der Seidenpflanzen von ihren Stadtschuhen zu klauben. »Ich wollte, dass du dieses Dreckskaff zuerst siehst, Danny - es ist eine Sünde und eine Schande, dass sie es nicht einmal ordentlich beseitigt haben! In West Dummer waren sie schon immer dümmer als Hundescheiße!«, rief der alte Holzfäller.
    »Warum steht das Schulhaus noch?«, fragte Danny. (Allein bei der Erinnerung daran, wie ihn die Kinder aus West Dummer gepeinigt hatten, hätte Danny die Paris Manufacturing Company School am liebsten sofort niedergebrannt.)
    »Keine Ahnung«, antwortete Ketchum. »Das Schulhaus wird wohl noch irgendwie für Freizeitsport genutzt. Gelegentlich sehe ich hier Skilangläufer - und natürlich andauernd Leute mit Schneemobilen. Ich hab gehört, dass diese Energiearschlöcher überall auf den Bergkämmen diese verfluchten Windmühlen aufstellen wollen. Über hundert Meter hohe Turbinen, die Rotorblätter sind fast fünfzig Meter lang! Um die zu bauen und zu unterhalten, müssen geschotterte Zufahrtsstraßen angelegt werden, zehn Meter breit - was, wie jeder Trottel weiß, heißt, dass sie eine etwa fünfundzwanzig Meter breite Schneise in den Wald schlagen müssen, nur um die Straße zu bauen! Diese Türme machen dann einen Mordskrach und schleudern Unmengen Eis durch die Gegend; wenn es Schnee oder Eisregen oder gefrierenden Nebel gibt, müssen sie die Dinger abschalten. Und wenn das Sauwetter vorbei ist und sie die dämlichen Windmühlen wieder anwerfen, wird das an den Rotorblättern festgefrorene Eis bis zu zweihundertfünfzig Meter weit geschleudert! Das Eis löst sich in Platten, die ein, zwei Meter lang sind, aber keine zwei Zentimeter dick. Solche Platten können einen Kerl oder einen ganzen Elch glatt durchschneiden! Und dann gibt's obendrauf die roten Blinklichter, als Warnung für die Flugzeuge. Ist wie ein schlechter Witz, dass diese Energiearschlöcher derselbe Haufen hirnrissiger Umweltschützer sind, die früher immer behauptet haben, die
Flößerei
mache die Flüsse und die Wälder kaputt. Oder es sind die
Kinder
dieser Scheißumweltschützer!«
    Plötzlich hörte Ketchum auf zu brüllen, weil er Carmella weinen sah. Sie hatte sich etwas von dem Pick-up entfernt; entweder hatten ihr die Himbeerbüsche den Weg versperrt, oder der Schutt des planierten Holzfällercamps hatte sie aufgehalten. Weil Ketchum sich so lautstark echauffiert hatte, konnte Carmella den Phillips Brook weder gehört noch das Wasser gesehen haben. Die umgekippte Lombard-Lok, ein für sie beängstigend fremder Anblick, hatte sie offenbar erschreckt.
    »Bitte, Mr. Ketchum«, sagte Carmella, »könnten wir uns ansehen, wo mein Angelù ums Leben gekommen ist?«
    »Klar können wir das, Carmella - ich habe Danny nur einen Teil seiner Vergangenheit gezeigt«, sagte der alte Flößer barsch. »Schriftsteller müssen doch ihre Vergangenheit kennen, nicht wahr, Danny?« Mit einer abrupten Handbewegung ging er wieder in die Luft: »Die Kantine, das Haus des Sägewerkschefs - alles plattgemacht! Und hier war irgendwo ein kleiner Friedhof. Sogar über den Friedhof sind sie mit dem Bulldozer drüber!«
    »Wie ich sehe, haben sie den Apfelgarten stehenlassen«, bemerkte Danny und zeigte auf die wild wuchernden Bäume, um die sich seit Jahren niemand mehr gekümmert hatte.
    »Ohne ersichtlichen Grund«, sagte Ketchum, der den Garten keines Blickes würdigte. »Nur die Hirsche fressen diese Äpfel. Ich habe hier 'ne ganze Menge Hirsche erlegt.« (Zweifellos waren in West Dummer sogar die Hirsche dümmer als Hundescheiße, dachte Danny. Vermutlich stand so ein dummer Hirsch einfach rum, fraß Äpfel und wartete darauf, geschossen zu werden.)
    Sie stiegen wieder in den Pick-up, und Ketchum wendete; diesmal setzte sich Danny in die Mitte, den Schaltknüppel zwischen den Beinen. Carmella kurbelte die Scheibe des Beifahrerfensters herunter und schnappte nach Frischluft. Der Truck hatte in der Sonne gestanden, und es wurde immer wärmer; der Gestank des toten Bären lastete auf ihnen wie eine schwere, übelriechende Decke. Danny hielt die Asche seines Dads auf dem Schoß. (Gern hätte er an der

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