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Letzte Nacht in Twisted River

Letzte Nacht in Twisted River

Titel: Letzte Nacht in Twisted River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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hoch.
    »Aber deine Mutter kannte unsere Regeln«, fuhr Ketchum fort. »Rosie sagte: >Nicht
die
Hand - das ist die falsche Hand.<
    Und sie tanzte weg von mir, sie wollte meine rechte Hand nicht nehmen. Dann rutschte dein Vater aus und fiel hin, und ich schob ihn über das Eis - wie einen menschlichen Schlitten -, konnte aber deine Mutter nicht einholen. Ich hab sie nicht festgehalten, Danny, weil ich mit der rechten Hand nach ihr gegriffen hatte - der
schlechten.
Verstehst du?«
    »Verstehe«, sagte Danny, »es kommt mir aber wie eine Kleinigkeit vor.« Doch der Schriftsteller sah es plastisch vor sich - wie die Entfernung zwischen seiner Mom und Ketchum unüberwindlich wurde, erst recht als die Baumstämme aus den Dummer-Teichen flussabwärts rasten und auf das Eis im Flussbecken prallten, wo sie rasch an Fahrt gewannen.
    Carmella, die kniete, sah aus, als würde sie beten; sie sah auf die Stelle im Fluss, wo ihr geliebter Angelù gestorben war. Die Aussicht auf das Flussbecken hier war bei weitem die beste in Twisted River, weshalb der Koch das Kochhaus dort hatte bauen lassen.
    »Hack dir nicht die linke Hand ab, Ketchum«, sagte Danny. »Bitte nicht, Mr. Ketchum«, bat Carmella. »Wir werden sehen« war alles, was Ketchum dazu sagte. »Wir werden sehen.«
     
    Im Spätherbst des Jahres, in dem er Twisted River in Brand gesetzt hatte, war Ketchum mit einer Hacke und etwas Grassamen dorthin zurückgekommen. In dem ehemaligen Ort Twisted River säte er nichts, doch wo einst das Kochhaus gestanden hatte - und überall auf dem mit Brandasche bedeckten Hang oberhalb des Flussbeckens -, harkte Ketchum Asche und Erde zusammen und verteilte die Grassamen. Er hatte einen Tag gewählt, für den Regen angesagt war; am nächsten Morgen war der Regen zu Schneeregen geworden, und den ganzen Winter über lagen die Grassamen unter dem Schnee. Im Frühling wuchs dann Gras, und wo früher das Kochhaus gestanden hatte, war jetzt eine Wiese. Nie hatte jemand das Gras gemäht, das hoch war und wogte.
    Ketchum nahm Carmella am Arm, und gemeinsam gingen sie durch das hohe Gras den Hügel hinunter, dorthin, wo früher die Ortschaft gewesen war. Danny folgte ihnen; er trug die Asche seines Dads und - weil Ketchum darauf bestanden hatte - den Remington-Karabiner. In dem Ort Twisted River stand nichts mehr, sah man von dem einsamen Wachtposten in der schlammigen Gasse neben dem ehemaligen Tanzsaal ab, der alten Lombard-Dampflok. Der Brand musste so glühend heiß gewesen sein, dass die Lombard dauerhaft geschwärzt war - verschont von Rost, aber nicht von Vogelscheiße, doch sonst kohlrabenschwarz. Die stabilen Schlittenkufen waren intakt, doch die Planierraupenketten waren verschwunden - vielleicht waren sie als Andenken mitgenommen oder auch vom Feuer verzehrt worden. Wo der Fahrer gesessen hatte - vorn in der Lok, über den Schlittenkufen -, sah das seit langem unberührte Lenkrad aus, als wäre es jederzeit einsatzbereit (falls noch ein Fahrer leben würde, der wüsste, wie man damit lenkte). Wie vom Koch prophezeit, hatte die uralte Lok den Ort überdauert.
    Ketchum führte Carmella näher zum Flussufer, doch auch an einem so trockenen und sonnigen Septembermorgen kamen sie keine zwei Meter an den Rand des Wassers heran; das Flussufer war gefährlich glitschig, der Boden ein einziger Morast. Obwohl die Dummer-Teiche nicht mehr gestaut wurden, floss das Wasser oberhalb des Flussbeckens schnell - sogar im Herbst -, und der Twisted River trat häufig über die Ufer. Näher am Fluss spürte Danny den Wind im Gesicht; er kam vom Becken her, als werde er von den Dummer-Teichen flussabwärts geweht.
    »Wie ich vermutet hatte«, sagte Ketchum. »Wir kommen nicht nahe genug ans Wasser, um Cookies Asche im Fluss zu verstreuen. Der Wind bläst die Asche zurück und uns ins Gesicht.«
    »Deshalb die Flinte?«, fragte Danny.
    Ketchum nickte. »Deshalb auch das Glasgefäß«, sagte er. Er nahm Carmellas Hand und wies mit ihrem Zeigefinger in die Ferne. »Nicht ganz auf halber Strecke zum anderen Ufer, aber fast in der Mitte des Flussbeckens - da sah ich Ihren Sohn unter die Stämme rutschen«, erzählte ihr der Flößer. »Ich schwör's, Danny, es war höchstens eine Armlänge von der Stelle entfernt, wo deine Mom durchs Eis brach.«
    Die drei schauten aufs Wasser hinaus. Am anderen Ufer des Twisted River sahen sie einen Kojoten, der sie beobachtete. »Gib mir den Karabiner, Danny«, sagte Ketchum. Der Kojote schien auffällig durstig zu sein und

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