Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Letzte Nacht in Twisted River

Letzte Nacht in Twisted River

Titel: Letzte Nacht in Twisted River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
Vom Netzwerk:
väterlichen Asche
geroeben
- wer weiß, vielleicht half der Duft von Steakgewürzen ja gegen den Bärengestank -, doch Danny hielt sich zurück.)
    Auf der Straße von Paris nach Twisted River - bei der Wasserscheide zwischen dem Phillips Brook, der nach Südwesten in den Ammonoosuc und dann in den Connecticut floss, und dem Twisted River, der sich nach Südosten in den Pontook und später in den Androscoggin ergoss - hielt Ketchum seinen übelriechenden Truck erneut an. Er zeigte aus dem Fenster in die Ferne auf etwas, was wie eine lange, flache Wiese aussah. Vielleicht war es im Frühling ein Sumpf, doch im September war es eine trockene Fläche, wo hohe Gräser und ein paar niedrige Kiefern wuchsen und junge Ahornschösslinge Wurzeln schlugen.
    »Als sie früher den Phillips Brook gestaut haben«, begann der Flößer, »war hier ein Tümpel, doch der Bach wurde schon lange nicht mehr gestaut. Es ist kein Tümpel mehr - schon lange nicht mehr -, aber man nennt ihn immer noch Moose-Watch Pond. Beim Tümpel haben sich früher die Elche versammelt, und die Waldarbeiter kamen, um sie zu beobachten. Jetzt kommen die Elche nachts hierher und tanzen dort, wo der Tümpel war. Und wer von uns noch lebt - das sind nicht mehr viele -, der kommt, um den Elchen beim Tanzen zuzusehen.«
    »Sie
tanzen?«,
sagte Danny.
    »Allerdings. Es ist eine Art Tanz. Ich hab sie gesehen«, sagte der alte Holzfäller. »Und diese Elche, die da tanzen, sind zu jung, um sich noch an die Zeit zu erinnern, als hier ein Tümpel war! Sie wissen's einfach, irgendwie. Die Elche sehen aus, als wollten sie den Tümpel zurückholen«, erzählte Ketchum. »In manchen Nächten komme ich her, um sie tanzen zu sehen. Manchmal überrede ich Sixpack, mich zu begleiten.«
    Jetzt waren keine Elche da - nicht an einem strahlenden, sonnigen Septembermorgen -, es gab aber keinen Grund, Ketchum nicht zu glauben, dachte Danny. »Deine Mom war eine gute Tänzerin, Danny - das weißt du doch. Ich schätze, die Rothaut hat's dir erzählt«, sagte Ketchum noch.
    Als Ketchum weiterfuhr, sagte Carmella nur: »Meine Güte - tanzende Elche!«
    »Wenn ich in meinem ganzen Leben nichts anderes gesehen hätte als tanzende Elche, wäre ich glücklicher gewesen«, erklärte Ketchum. Danny blickte ihn an; die Tränen des Holzfällers versickerten rasch in seinem Bart, doch Danny hatte sie gesehen.
    Jetzt kommt die Geschichte mit der linken Hand, ahnte der Schriftsteller. Die bloße Erwähnung von Dannys Mutter - oder dem Tanzen - hatte in Ketchum etwas ausgelöst.
    Aus der Nähe wirkte der Bart des alten Flößers grauer; Danny konnte den Blick nicht von Ketchum abwenden. Er dachte, Ketchum wolle nach dem Schaltknüppel greifen, als dessen starke rechte Hand Dannys linkes Knie packte und schmerzhaft drückte. »Was guckst du denn?«, fragte ihn Ketchum schroff. »Ich würde kein Versprechen brechen, das ich deiner Mom
oder
deinem Dad gegeben habe, aber es ist nun mal eine verdammte Tatsache, dass manche Versprechen, die man in seinem erbärmlichen Leben gibt, einander widersprechen - so wie ich Rosie außerdem noch versprochen habe, dass ich dich immer lieben und mich um dich kümmern würde, falls der Tag käme, wo dein Dad das nicht mehr tun könnte. Ein Tag wie dieser beispielsweise!«, rief Ketchum; nun hielt seine linke Hand das Lenkrad fester und länger als bisher beim Schalten.
    Schließlich gab seine rechte Pranke Dannys Knie frei - Ketchum fuhr wieder mit rechts. Der linke Ellbogen des Holzfällers ragte aus dem Fenster, als wäre er mit dem Fahrerhaus verwachsen; die inzwischen entspannten Finger von Ketchums linker Hand berührten das Lenkrad nur beiläufig, als er auf die alte Holzabfuhrstraße nach Twisted River einbog.
    Sofort wurde die Straße schlechter. In eine Geisterstadt führt kaum Verkehr, und Twisted River lag auch nicht auf dem Weg zu einem anderen Ort; niemand hielt die Abfuhrstraße instand. Das erste Schlagloch, durch das der Truck fuhr, ließ die Klappe des Handschuhfachs aufspringen. Der angenehme Geruch von Gewehröl drang heraus und überlagerte kurz den penetranten Bärenmief. Als Danny die Hand ausstreckte, um die Klappe wieder zu schließen, sah er darin eine große Flasche Aspirin und eine Pistole in einem Schulterholster.
    »Beides Schmerzmittel«, kommentierte Ketchum beiläufig, als Danny das Handschuhfach zumachte. »Ohne Aspirin und eine Waffe würde ich nie aus dem Haus gehen.«
    Auf der Ladefläche des Pick-ups, und zwar auf dem

Weitere Kostenlose Bücher