Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Letzte Nacht in Twisted River

Letzte Nacht in Twisted River

Titel: Letzte Nacht in Twisted River Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
Vom Netzwerk:
selbst die etwas weniger provisorischen Siedlungen wie Twisted River) starben aus. Ja sogar die Wanigans verschwanden, jene seltsamen Schuppen, in denen man schlief, aß und Ausrüstung lagerte und die man nicht nur auf Pick-ups, Räder oder Raupenfahrwerke montierte, sondern häufig auf kleine Floße oder Boote.
    Die indianische Tellerwäscherin, die für den Koch arbeitete, hatte seinem Sohn vor längerer Zeit erzählt,
wanigan
leite sich von einem Wort aus der Abenaki-Sprache ab, weswegen der Junge sich fragte, ob die Tellerwäscherin ebenfalls zum Stamm der Abenaki gehörte. Vielleicht war sie ja nur zufällig auf die Herkunft des Wortes gestoßen oder hatte sie einfach erfunden. (Ein indianischer Schulkamerad hatte dem Sohn des Kochs nämlich erzählt,
wanigan
sei ein Algonkin-Wort.)
    Während einer Holztrift wurde vom Morgengrauen bis zum Einbruch der Dunkelheit gearbeitet. Bei der Flößerei wurden die Männer viermal täglich verpflegt. Wenn früher die Wanigans nicht bis zum Flussufer durchkamen, brachte man den Flößern die beiden Mittagsmahlzeiten zu Fuß oder zu Pferd. Die erste und die letzte Mahlzeit des Tages wurden jeweils im Basislager eingenommen - oder inzwischen eben in der Dining Lodge.
    An diesem Tag hatten viele der Holzarbeiter wegen Angel das Abendessen im Kochhaus ausfallen lassen. Sie hatten den ganzen Abend die treibenden Stämme begleitet, bis die Dunkelheit sie zur Umkehr gezwungen hatte. Den Männern war dabei klargeworden, dass keiner von ihnen wirklich wusste, ob der Dead-Woman-Damm offen war oder nicht. Vielleicht waren die Stämme - vermutlich mit Angel - von dem Flussbecken unterhalb der Ortschaft Twisted River schon in den Pontook-Stausee getrieben - es sei denn, der Dead-Woman-Damm war zu. Und wenn der Pontook-Damm
und
der Dead Woman offen waren, trieb die Leiche des jungen Kanadiers womöglich schon mit Karacho den Androscoggin hinunter. Keiner wusste besser als Ketchum, dass man Angel dort wahrscheinlich nicht mehr finden würde.
    Der Koch merkte, dass die Flößer ihre Suche beendet hatten - durch die Fliegengittertür der Küche hörte er, wie sie die Flößerhaken an das Kochhaus lehnten. Einige müde Männer aus dem Suchtrupp fanden sich im Dunkeln noch in der Dining Lodge ein, und der Koch brachte es nicht übers Herz, sie wegzuschicken. Das Personal war nach Hause gegangen - alle bis auf die indianische Tellerwäscherin, die meistens noch bis tief in die Nacht blieb. Der Koch mit dem schwierigen Namen Dominic Baciagalupo - oder »Cookie«, wie ihn die Holzfäller gewöhnlich nannten - machte den Männern ein spätes Abendessen, und sein zwölfjähriger Sohn brachte es ihnen an den Tisch.
    »Wo ist Ketchum?«, fragte der Junge seinen Dad.
    »Wahrscheinlich kriegt er einen Gips«, antwortete der Koch.
    »Bestimmt hat er Hunger«, sagte der Zwölfjährige, »aber Ketchum ist irre zäh.«
    »Für einen, der so viel trinkt, ist er erstaunlich zäh«, pflichtete ihm Dominic bei, dachte aber bei sich: Vielleicht war Ketchum in diesem Fall nicht zäh genug, denn Angels Verschwinden traf ihn wohl von allen am schwersten. Der erfahrene Holzarbeiter hatte den jungen Kanadier mehr oder weniger unter seine Fittiche genommen; er hatte auf den Jungen aufgepasst oder hatte es jedenfalls versucht.
    Ketchums Haar und Bart waren tiefschwarz - so schwarz wie Holzkohle, schwärzer als das Fell eines Schwarzbären. Er hatte früh geheiratet, und zwar mehr als einmal. Zu seinen Kindern, die inzwischen groß und ihre eigenen Wege gegangen waren, hatte er keinen Kontakt mehr. Nun wohnte er jahrein, jahraus in einer der Schlafbaracken oder in irgendeiner der heruntergekommenen Herbergen, wenn er nicht in einem selbstgebauten Wanigan schlief - auf der Ladefläche seines Pick-up-Trucks, wo er in manchen Winternächten, wenn er sturzbesoffen weggedämmert war, beinahe erfroren wäre. Doch Ketchum hatte nicht nur Angel vom Alkohol, sondern auch etliche Frauen im sogenannten Tanzsaal von dem jungen Kanadier ferngehalten.
    »Du bist zu jung«, hatte der Koch Ketchum zu Angel sagen hören. »Außerdem kannst du dir bei den Damen was einfangen.«
    Ketchum wird es wohl wissen, hatte der Koch gedacht. Dominic wusste, Ketchum war schon Schlimmeres passiert, als sich bei einer Trift das Handgelenk zu brechen.
    Das ständige Zischen und gelegentliche Flackern der Zündflammen am Gasherd in der Kochhausküche - ein alter Garland mit zwei Backöfen, acht Flammen und darüber einem rußgeschwärzten Bratrost -

Weitere Kostenlose Bücher