Letzte Reise
neue Hose für das Kind. Benny. Denk doch seinen Namen. Seinen falschen Namen. Ich werde weiter an der Weste sticken. Sie lag noch da, im Papier, tiefrot. Die Knopflöcher habe ich Weihnachten gemacht. Jetzt die kleinen Ranken aus Silbergarn auf den Taschen. Der Junge schaute aus anderthalb Metern Abstand zu, er fand das interessant, wagte aber nichts zu fragen. Die Farbe hat ihn sicher angezogen.
»Für Papa«, sagte Charlotte. »Mama macht eine Weste für Papa. Wenn er zurückkommt, zieht er sie an. Ich mache eine Hose für dich, schau mal her.«
Er lehnte sich gegen Charlottes Knie und legte die Hand auf den aschgrauen, dicken Stoff. Sie selbst schnitt den silbernen Faden ab, steckte das fransige Ende in den Mund, hielt die Nadel gegen das Licht und schickte das angefeuchtete Garn auf Anhieb durch das Nadelöhr. Wenn es trocken blieb, konnte Charlotte mit dem Kind nach draußen, nachmittags, wenn sie selbst in die kleine Schule ging.
Es hatte mit einer Begegnung auf den Stufen des Admiralitätsgebäudes begonnen. Sie hatte drinnen über Geld geredet und war mit einem Gefühl des Triumphs wieder nach draußen getreten. Eine Frau, etwas jünger als sie, fünfunddreißig vielleicht, stand zögernd am Fuße der Treppe. Elizabeth hatte zu ihrer eigenen Überraschung das Gespräch eröffnet, hatte sich vorgestellt, ihre Hilfe angeboten. Die Frau war, wie sich zeigte, mit David Nelson verheiratet, dem versierten Gärtner der königlichen botanischen Sammlung in Kew. Sie wollte um Geld bitten, die Herren ließen sich Zeit, und sie sei in Verlegenheit. Elizabeth hatte sich sofort solidarisch gefühlt, sie beide gemeinsam gegen die Männer mit ihren Seidenstrümpfen unter den strammen Kniehosen. Mit einem Mal war ihr bewußt geworden, daß wohl hundert Frauen in ihrer Lage sein dürften, wartend, den Haushalt aufrechterhaltend, bis das Schiff wieder einlief. Die Frau hieß Jane; Elizabeth war mit ihr zusammen wieder hineingegangen.
Kinderlos war sie. Nelson hatte seine Pflanzen, sie organisierte eine kleine Schule für Matrosenkinder, die kein Geld für eine richtige Schule hatten. So hatte es angefangen.
Seit zwei Jahren half Elizabeth ihr. Lesen, singen, zählen, zeichnen. Aufräumen, Hände waschen, tanzen. Das Bezahlen der Miete hatte sie Jane gleich abgenommen. Das Gebäude war Eigentum der Kirche, und das Geld mußte monatlich zum Pfarrer gebracht werden. Jane ließ sich von dem Mann einschüchtern, er erkundigte sich nach dem Stundenplan und mischte sich in die Auswahl der Lesetexte und der Lieder ein. Elizabeth hatte sich da schon zu helfen gewußt.
Im Laufe der Zeit hatte sie Zuneigung zu Jane Nelson gefaßt, und ohne daß sie sich hätten absprechen müssen, war eine Aufgabenverteilung entstanden, bei der sie sich beide gut fühlten. Sonderbar, wie das geht, dachte Elizabeth. Wenn man zu zweit ist und sich gut ineinander einfühlen kann, macht jede von sich aus die Dinge, die ihr am besten liegen. Oder ihm. Es geht also schon. Daß es mit James nicht so ging – Unsinn, nicht daran denken jetzt.
Janes selbstverständliche, praktische Fürsorglichkeit gegenüber den Kindern hatte sie überrascht. Ein Mädchen stolperte über eine viel zu lange Schürze – Jane legte einen Saum hinein. Zwei Jungen konnten nicht kommen, weil ihre Mutter sie nicht gehen ließ – Jane holte sie jeden Tag persönlich ab. Elizabeth sorgte für die Disziplin und das eigentliche Lernen, wenn es dazu kam. Jane grub den Garten hinter der Schule um und ließ die Kinder Bohnen und Kartoffeln in die Erde stecken. Elizabeth stand dem entrüsteten Pfarrer Rede und Antwort. Im Schulgarten war jetzt, im Winter, wenig zu erleben. Und drinnen machten sie schon um drei Uhr nachmittags die Lampe an. Die Kinder setzten sich nah beieinander auf den Boden, und Elizabeth erzählte. Sie hatte das Buch über die zweite Reise auf dem Schoß. Eigentlich hatte sie es einfach so vorlesen wollen, wie es dort geschrieben stand, geschrieben von James, von ihr selbst zurechtgefeilt, von Douglas redigiert; doch schon bald schaute sie kaum noch auf die engbedruckten Seiten, sondern sprach frei in ihren eigenen Worten. Jedes Kind zu ihren Füßen hatte einen Vater an Bord. Manche Passagen ließ sie weg. Väter sollten nicht wegen Ungehorsams Schläge bekommen. Manches erfand sie auch hinzu. Väter sollten an London denken, ihre Kinder vermissen und sich fragen, wie es zu Hause zuging. Sie hielt das Buch in die Höhe, um Hodges' Stiche zu zeigen, und die
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