Letzte Reise
Teil
9
Elizabeth erwachte im eiskalten Zimmer. Schwarzblau schimmerte die Nacht hinter dem Fenster. Jemand weinte, das klägliche Schluchzen drang von weit her in den Raum. Sie drehte sich auf den Rücken und legte die Arme auf die Decke.
Das Kind. Natürlich, das Kind. Sie stieg aus dem Bett und zündete die Kerze an. Es war, als schwimme sie durch die kalte Luft, die die Grenzen ihres Körpers markierte. Auf dem Flur hörte sie es deutlicher. Benny rief nach der Amme. Dreieinhalb Jahre war er jetzt alt, und Charlotte kam noch immer. Als er noch kein Jahr alt gewesen war, hatte Elizabeth entdeckt, daß die Frau unter falscher Flagge segelte und ihm nicht die Brust gab, sondern ihn aus einem Schnabelbecherchen abgekochte Kuhmilch trinken ließ. Charlotte hatte den Jungen auf dem Schoß, sie redete mit ihm. Er lachte! Elizabeth, unerwartet von einem Besuch zurückgekehrt, von dem sie mit einem Mal genug gehabt hatte, sah es durch das Küchenfenster. Es hatte eine Konfrontation gegeben. Ein Gespräch.
»So ein lieber, stiller Junge«, hatte die Amme, die keine Amme war, gesagt. »Ich freue mich jeden Morgen auf ihn. Ich habe keine Milch mehr. Schon seit zwei Monaten nicht mehr. Aber ich liebe ihn.«
»Er wächst«, hatte Elizabeth gesagt. »Auch ohne deine Milch wächst er gut. Glaube ich.«
Nach dem Gespräch hatte sich die Atmosphäre im Haus verändert. Charlotte blieb jetzt länger, half Elizabeth oft bei dem, was zu tun war, und manchmal unterhielten sie sich, während der Junge zwischen ihnen auf dem Fußboden saß und schweigend Holzklötzchen in ein altes Kohlenbecken füllte. Wenn alle Klötze verstaut waren, hob er das Gesichtchen und schaute Charlotte an. »Gut gemacht«, sagte sie, »alles ist weg.« Dann lächelte er. Elizabeth sah es sich an. Er muß wachsen, dachte sie. Wenn er größer ist, werde ich ihm die Buchstaben beibringen.
Jetzt schrie er. Sie ging in das Zimmer, wo er in dem schmalen Bett lag, das Nat gehört hatte. Sie stellte die Kerze auf den Waschtisch, die Flamme flackerte kurz und kam zur Ruhe. Der Junge sah sie an, kniff die Augen wieder zu und weinte weiter. Trost, dachte sie, ich muß ihn trösten, ich muß mich auf das Bett setzen, den Jungen an mich ziehen, etwas sagen, etwas, das ihn beruhigt. Aber was? Fürchtet er sich im Dunkeln? Hatte er einen bösen Traum? Ich kann doch einfach fragen, was mit ihm ist?
»Salott, Salott!« rief er. Das Kissen erstickte die Worte. Elizabeth sah eine feuchte Wange, eine spitz aufragende Schulter. Vorsichtig trat sie einen Schritt näher. Sie räusperte sich.
»Charlotte kommt morgen. Du mußt jetzt schlafen. Wenn du aufwachst, kommt sie.«
Sie konnte ihn nicht berühren. Es ging einfach nicht. Sie zog Laken und Decken zurecht und deckte das weinende Kind fest zu. Er lag auf der Seite, die Fäuste am sabbernden Mund. Er schluchzte laut.
Die Kerze ließ sie stehen. Sie schloß die Tür und blieb dagegengelehnt stehen. Durch die Ritzen hindurch hörte sie, wie sich der Junge zu ermannen versuchte.
»Slafen. Morgen. Salott.« Das Brüllen ging in Flüstern über. Aus dem Schluchzen wurde ein langgezogenes, trauriges Weinen, das allmählich verstummte. Von Zeit zu Zeit stieg noch ein zitternder Seufzer auf. Wie er da lag, dachte sie. Hellwach. Mit fest zugedrückten Augen auf den befreienden Morgen wartend, reglos, beherrscht.
Leise kehrte sie zu ihrem Bett zurück.
Auch sie lag stocksteif da und wartete auf den Morgen. Wenn James erst einmal wieder da ist, dachte sie, versuche ich es aufs neue. Dann wird Benny zu unserem Kind, dann werde ich es schon schaffen. Fast vier Jahre ist er jetzt fort, er muß einfach im Laufe dieses Jahres, dieses meterhohen Jahres, das gerade erst begonnen hat, wiederkommen. Todmüde, wenn ich nur daran denke. Wieder dieses ganze Theater. Aber nun bleibt er wenigstens zu Hause. Vielleicht sollten wir irgendwo anders hinziehen, wo einen die Vergangenheit nicht aus allen Ecken anspringt, weiter fort vom Wasser. Abstand wirkt Wunder, manchmal bringt er Ruhe, und manchmal nährt er einen Orkan erhitzter Gedanken, so daß man nicht mehr ein noch aus weiß. Was mache ich heute? Am besten ist ein geregelter Tagesablauf. Das ist das einzig Wahre. Sorge tragen, daß die Feuer nicht ausgehen. Es friert zwar nicht, aber kalt ist es. Zehnter Januar. Nun ja, jeder Monat ist ein Greuel. Charlotte kommt. Ich tröste mich genauso wie das Kind. Wir setzen uns an den Herd. Die Näharbeiten fortsetzen. Charlotte schneidert eine
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