Letzte Reise
zu lange bleiben, um den lecken Kahn wieder zu flicken. Wenn du für gutes Material gesorgt hättest, würde er jetzt noch leben. Die brüchigen Schundmasten, die du auf das Schiff setzen ließest, brachen beim kleinsten Sturm. Deshalb mußte er zurück! Deshalb haben sie ihn totgeknüppelt! Wie kannst du dich da nur bei mir beklagen, daß man dich schlecht behandelt hat, und dumm über Machtdemonstration daher philosophieren. Um mir helfen zu wollen! Wie bekommst du das nur über die Lippen? Von jemandem, der mich gleich zweimal schamlos im Stich gelassen hat, akzeptiere ich keine Hilfe. Niemals!«
Sie schrie und stampfte mit dem Fuß auf. Tränen der Wut rannen ihr über die Wangen.
Da warf Palliser seinen Stock zu Boden. Der Silberbeschlag klirrte auf den Steinen. Er trat zwei Schritte auf sie zu, packte sie mit eisernem Griff bei den Schultern und schüttelte sie durch.
»Jetzt bist du aber mal einen Moment still und hörst mir zu.«
Sie schaute in sein verbissenes Gesicht und schluckte vor Schreck ihre Worte hinunter.
»Du hast recht, wenn du mir Versäumnisse vorwirfst. Ich habe meine Aufgaben in Deptford nicht nach Gebühr erfüllt. Deine Enttäuschung darüber, daß James entgegen unserer Erwartung, unserer Hoffnung doch wieder wegfuhr, ist vollkommen logisch und verständlich. Doch diese extreme Wut habe ich nicht verdient. Die akzeptiere ich auch nicht. Du vergißt eines: James war auch noch da! Du tust gerade so, als sei er ein willenloser Spielball gewesen, den Listen und Wünschen der Admiralität und des Königs ausgeliefert. Aber so war es nicht, Elizabeth. Er war selbst dabei. Und bei seinem Status konnte er sich alles erlauben. Er hätte sich sein Material besser ansehen können, wenn er gewollt hätte. Er hätte sich weigern können, mit einem Schiff in diesem Zustand in See zu stechen. Selbst am Kap hätte er noch nein sagen können. Er hat es nicht getan. Er machte weiter. Er.«
Die Wärme seiner Handflächen drang in ihre Schultern. Sie spürte, wie er mit den Daumen über ihre Schlüsselbeine strich.
»Deine Vorwürfe gegen mich sind gerechtfertigt. Ich nehme mir das zu Herzen. Aber daß du derart erbost bist, hat eine andere Ursache. Wie könntest du auch jemandem zürnen, der ein so grausames Ende gefunden hat? Das geht nicht; deswegen wetterst du gegen mich. Du bist wütend auf deinen eigenen Mann. James hat dich verlassen, nicht ich.«
Sie hörte die Tropfen von den Zweigen fallen. Sie fühlte seinen Atem an ihrer Stirn, heiß. Er hat recht, dachte sie, es ist alles umsonst. Sie drehte sich um und rannte mit klappernden Schuhen und wehenden Röcken nach Hause.
10
Stepney, 1. November 1780
Verehrte Frau McAllister!
Mein Name ist Jane Nelson. Nehmt es mir bitte nicht übel, daß ich mich so einfach an Euch wende. Ich schreibe namens und wegen Eurer Freundin Elizabeth Cook. Sie ist auch meine Freundin. Mein Mann segelte auf dem Schiff unseres seligen Kapitäns. Die Schiffe sind letzten Monat nach gut vierjähriger Reise in London eingelaufen. Aber davon soll mein Brief nicht handeln. Frau Cook, Elizabeth also, und ich haben uns angefreundet. Wir betreiben schon seit einigen Jahren eine kleine Schule für bedürftige Seemannskinder. Vielleicht hat sie Euch darüber geschrieben. Sie kann wundervoll vorlesen.
Ich möchte Euch um einen Rat bitten. Denn ich muß Euch eine neuerliche Unheilsbotschaft übermitteln. Ihr wißt, denke ich, daß Nathaniel diesen Sommer seine Ausbildung an der Seefahrtsschule abgeschlossen hat, mit guten Zeugnisseil. Aber sein Herz schlug nicht für die Seefahrt. Er beabsichtigte, nach Hause zurückzukehren und sein Geigenstudium wiederaufzunehmen. Elizabeth war froh darüber. Aber jetzt!
Nathaniel war der Marinestation in Westindien zugeteilt, nach dem Sommer. Seine erste richtige Anstellung. Trompeter und Matrose. Dieser Verpflichtung wollte er in Würdigung des Andenkens seines Vaters nachkommen. Weihnachten wollte er den Vertrag dann lösen und die Seefahrt ein für allemal aufgeben.
Vor seiner Abreise war er noch einige Tage bei seiner Mutter. Er war erleichtert über seine Zukunftspläne. Aber auch aufgeregt über die Reise, er war noch nie so weit fort gewesen. Wenn sie könnte, würde Elizabeth Euch gewiß selbst schreiben. Wir haben zum Glück Hilfe von Charlotte, die wie eine Mutter für Benny sorgt. Es gab einen Orkan. Am 5. Oktober. Dreizehn Schiffe sind vor der Küste der Insel Jamaika gesunken. Alle ertranken. Nathaniel war erst fünfzehn. Ich
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