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Letzte Reise

Letzte Reise

Titel: Letzte Reise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Enquist
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übergeben zu müssen, so groß war der Verlust. Die Erinnerungen an Nat machten sie wirklich krank, und doch konnte sie an nichts anderes denken. Sie wollte das auch. Und sie wollte es nicht. Wenn der Doktor mit seinen Tropfen kam, nahm sie das für einige Stunden gebotene Vergessen dankbar an. Mitten in der Nacht ließ die Wirkung der Betäubung nach, und sie erwachte in der grausigen Welt, die nicht mehr die ihre war. Sie biß fest in ihren Handballen und wartete mit angespannten Muskeln auf das Morgengrauen. Manchmal konnte sie sich nicht beherrschen und schrie. Es kam einfach heraus, sie konnte nichts dagegen machen. Dann erschien Charlotte oder Jane, sie wechselten sich offenbar ab, im Flanellnachthemd, mit einer Kerze, mit einem Becher Wasser, mit einem feuchten Lappen, um ihr das Gesicht abzuwischen.
    Mitunter waren beide Frauen gleichzeitig im Schlafzimmer anwesend, und Elizabeth fing Gesprächsfetzen von ihnen auf. Waren sie wirklich Freundinnen, oder posierten sie nur als solche, um zu verschleiern, daß sie Handlangerinnen der Welt waren, die sie wieder an Bord schleifen wollten?
    »Noch Wochen, bis eine Antwort kommt.«
    »Wir können nicht warten.«
    »Nein, gläubig ist sie nicht. Sie haßt Pfarrer. Das können wir nicht machen.«
    »Nimm mir bitte mal eben die Kanne ab, dann kümmere ich mich um das Kissen.«
    »Zum Glück kommt Jamie morgen. Armer Junge.«
    Wasser schwappte in eine Schüssel. Eine Öllampe ersetzte die flackernde Kerze. »Elizabeth? Elizabeth!«
    Sie registrierte alle Geräusche, reagierte jedoch auf nichts. Ich beobachte, dachte sie, ich befolge die Gesetze der Wissenschaft. Es ist Lärm im Zimmer, die Frequenz und die Intensität der Schritte nehmen zu, das Flüstern geht in gedämpftes Reden über. Um meine Aufmerksamkeit zu erregen, rufen die Frauen meinen Namen. Das ist eine Annahme, keine Wahrnehmung. Sie berühren meinen Körper, zuerst den von der Decke bedeckten Rücken, dann die bloßen Hände, zum Schluß das Haar, das Gesicht. Sie machen diverse Mitteilungen: daß sie Suppe gekocht haben, daß es vier Uhr ist, daß Briefe gebracht wurden, daß mein ältester Sohn kommt. Die eine, die mit dem scharfen Klang in der Stimme, sagt, daß es jetzt genug ist. Sie liest einen Brief vor, den sie jemandem geschrieben hat. Er handelt von mir. Ich höre ihre Stimme zittern, sie überschlägt sich fast. Essensdünste dringen ins Zimmer. Auf das Tischchen neben dem Bett wird eine Schüssel gestellt. Dampf steigt davon auf. Sie ziehen mich an den Schultern hoch. Der Beobachter ist zum Objekt geworden.
    Charlotte fütterte sie, wie sie früher Benny gefüttert hatte. Nach einigen Löffeln Suppe rutschte Elizabeth kraftlos wieder unter die Decke. Seufzend trugen die Frauen ihre heilkräftigen Erzeugnisse wieder nach unten. Elizabeth tauchte in ihre wirre Erinnerung ab, in der Elly und Nat Lieder sangen, zwei vor Vergnügen krähende blonde Kinder, drei und sechs Jahre alt. Alles, was sie gelernt haben, die Wörter, die Sätze, wie man jemanden begrüßt, was man anzieht, wenn es schneit – umsonst. Die Fingerhaltung, die Gesetze der Bogenführung, die Takelung eines Kriegsschiffes, die beste Methode, eine Seemannskiste zu packen – vergebens. Die Kiste war auch gesunken. Der Gedanke schlug ein wie ein Blitz. Seine Kleidung. Ein Heft vielleicht, in das er seine Erlebnisse geschrieben hatte. Die Trompete. Könnte sie doch selbst, könnte sie doch auch, könnte sie doch auf der Suche nach ihm im schwarzen Wasser untergehen.
    Jemand saß neben ihrem Bett unter der Lampe und las etwas vor. Janes Stimme. Durch ihre Wimpern hindurch sah Elizabeth den Rock mit den schmalen Streifen, die zitternden Hände, die eisern ein bleiches Papier hielten. Ihr Mann ist zurück, dachte Elizabeth, und dennoch sitzt sie hier. Sie muß nach Hause gehen. Die Freundlichkeit, die Fürsorge, der Aufwand sind bei mir vergebliche Liebesmüh.
    »Ich hoffe, daß Ihr Trost in dem strahlenden Andenken an unser aller geliebten Kapitän finden könnt, der stolz darauf war, daß sich seine Söhne ganz der Seefahrt verschrieben hatten.« Elizabeth machte eine abwehrende Bewegung. »Ich darf Euch meines tiefen Mitgefühls versichern. Euer Joseph Banks«, sagte Jane mit nachlassender Stimmkraft. Sie ließ den Brief sinken. Elizabeth drehte das Gesicht weg.
    »Meine liebe Elizabeth«, begann Jane wieder. »Jetzt hat das grimmige Schicksal erneut zugeschlagen, und wieder bist Du der Amboß, auf den der schreckliche Schmied

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