Letzte Reise
hämmert. Wie schwer, noch an Fortgang zu glauben, wenn Du diesen Preis dafür zahlen mußt. Er war so ein lieber, empfindsamer Junge. Ich vermisse ihn mit Pein im Herzen, und ich vermag mir nicht vorzustellen, wie es erst für Dich sein muß. Ich würde so gerne –« Elizabeth drehte sich brüsk um und schlug Jane den Brief aus der Hand. Während das Papier mit der deutlich sichtbaren resoluten Unterschrift Pallisers schaukelnd zu Boden schwebte, schossen Jane die Tränen in die Augen. Sie wischte sie mit einem Zipfel ihrer Schürze ab, bückte sich, um die Briefe aufzuheben, und zog sich nach unten zurück.
Elizabeth war schwindlig vor Erschöpfung. Es gab keinen Unterschied mehr zwischen Tag und Nacht, die Zeit war zu einem richtungslosen Klumpen geworden. Sie hörte Nat in der Kirche Corelli spielen, sie sah sein Profil hinter dem erhobenen Arm verschwinden, der den Bogen auf die Saiten setzte, sie spürte James' gespannte Anwesenheit neben sich. Der Arzt. Die Tropfen. Eine neue Kerze. Laute Schritte, die zielgerichtet in ihr Zimmer eindrangen.
»Mutter, du mußt aufstehen!« Jamie stand breitbeinig am Fußende. Sie sah Janes unsicheres Gesicht hinter seinen kräftigen Schultern.
Wenn nun er, fuhr es ihr durch den Sinn, statt Nat? Wäre das besser zu ertragen gewesen? Es stand nicht zur Debatte. Ein kranker Gedanke, der schon wieder weg war, bevor sie darüber erschrecken konnte. Straffe Wangen hatte er, Jamie. Einen Mund mit schmalen Lippen, die nicht lächeln wollten.
»Wir alle essen. Du mußt es auch. Das ist ein Befehl.«
Charlotte brachte einen Teller mit einem Stück Fleisch zwischen bleichen Kohlstreifen. Sie schüttelte den Kopf und rutschte tiefer unter die Decke. Im nächsten Moment war das Fett geronnen, der widerliche Geruch verschwunden.
Jamie hockte sich neben das Bett und sah sie an. Das hellgraue Fenster hinter seinem quadratischen Kopf. Tag? Nacht?
»Ich muß wieder weg. Ich möchte, daß du etwas ißt, bevor ich gehe.«
Sie wollte ihm etwas sagen, bekam aber keinen Laut heraus. Die Haut ihrer Lippen war gesprungen, sie spürte die fransigen Fetzen, als sie zu sprechen versuchte. Jamie machte Anstalten, sich zu erheben. Sie streckte die Hand nach seinem Knie aus, zeigte dann auf den Becher, der auf dem Tischchen stand. Er reichte ihr das Wasser. Sie hörte sich schlucken, ohrenbetäubend.
»Die Sachen, Jamie«, flüsterte sie. »Wo sind Nats Sachen?«
»Zerbrichst du dir darüber den Kopf? Daran solltest du nicht denken. Du solltest essen. Dich aufrichten. Aus dem Bett herauskommen.« Was für eine laute Stimme er hatte. Sie erfüllte das ganze Zimmer; aus dem Bett, aus dem Bett, hallte es in ihrem Kopf wider.
»Ich werde mich erkundigen«, sagte Jamie etwas leiser, »aber ich bin mir ziemlich sicher, daß nichts da ist. Die Kiste hat man immer bei sich. Da ist alles drin.«
Sie schloß die Augen und ließ ihn gehen. Jemand hatte das Fenster geöffnet, und sie roch den Nebel, der ins Zimmer hereinwehte, vermischt mit dem Geruch von brennendem Holz. Ihr war nicht kalt. Ihr war gar nichts.
»Schau mal, Elizabeth«, sagte Charlotte, »dieser Brief wurde gerade gebracht. Soll ich ihn dir vorlesen?« Charlotte hielt das Kuvert in ihr Blickfeld. Dünne, spitze Buchstaben, wie von einer zitternden Hand geschrieben. Sie schwieg, Charlotte schlitzte den Brief auf.
»Ich habe gezögert, Euch zu schreiben. Der Kummer war allzu übermächtig. Ich habe die Partituren der Stücke zusammengesucht, die er gespielt hat. Sie liegen hier vor mir, und ich lese darin. Meine körperliche Verfassung macht es mir leider unmöglich, Euch aufzusuchen. Ich gehe seit einigen Monaten nicht mehr aus dem Haus. Aber Ihr würdet mir mit Eurem Besuch eine große Freude machen. Ich weiß, daß das viel verlangt ist, doch Euer Sohn war für mich ein Licht, eine brennende Lampe. Ich würde seiner gerne mit Euch gedenken. Sein Spiel trage ich in Gedanken immer mit mir.«
Ein rauher Wind blies durch die Straße. Wolkenfetzen schossen am Himmel entlang. Die Bäume waren schon fast wieder kahl. Ein einsamer Vogel, der die Schwingen auszubreiten wagte, wurde vom Wind herumgewirbelt.
Elizabeth lief mitten auf dem Weg, barhäuptig. Sie verbarg die Hände unter den Achseln und hielt den Rücken gerade. Nach Ellys Tod hatte sie sich nicht auf die Straße getraut und das Gesicht hinter einem Schleier versteckt, wenn es doch einmal sein mußte. Entstellt hatte sie sich gefühlt, verunstaltet, für jedermann sichtbar
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