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Letzte Reise

Letzte Reise

Titel: Letzte Reise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Enquist
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begangen, daß es mir gebührt, eine schwere Last zu tragen.
    Ich untersuchte die Bindung der Schrift. Sie bestand aus einzelnen, mit Garn zusammengenähten Heften. Ich zerrieb den Faden mit einem stumpfen Messer, damit man die Zerfaserung gewöhnlicher Abnutzung zuschreiben konnte. Ich war versucht, zwei Hefte zu entfernen, denn in den Aufzeichnungen vom Dezember fand ich eine furiose Passage über die Untauglichkeit des Materials und die schändliche Laschheit der Marine. Segeltuch, Tauwerk, Taljen – unbrauchbarer Plunder sei es, von unbrauchbaren Verantwortlichen für die Ausrüstung des Schiffes verwendet. Ich habe dieses Heft dringelassen. Sandwich sollte es lesen. Ich mußte es erdulden. James hatte recht.
    Das andere Heft gedachte ich mit ins Grab zu nehmen. Leider hat man selbst nicht mehr die Hand darauf, wenn es einmal so weit ist. Das ist mir erst in diesen letzten Wochen richtig bewußt geworden. Wenn ich nichts tue, wird irgendwer dereinst diese Papiere finden und das Bild von James für immer besudeln. Ich konnte sie vernichten, der Kamin in meinem Zimmer brennt hell. Aber was ist dann mit Dir? Darüber habe ich nächtelang nachgedacht. Wenn ich Dir das Journal zu meinen Lebzeiten gegeben hätte, wäre es so gewesen, als hätte ich Dich dazu angestachelt, Dich über James hinwegzusetzen – und mir zuzuwenden. Nichts hätte ich lieber gewollt, doch das habe ich nicht fertiggebracht. Es wäre falsch gewesen. Lauterer ist es, Du liest es erst, wenn ich nicht mehr bin. Dann kannst Du Deine Nachforschungen nach seinem Tod ganz unbelastet abrunden und Deinen Schlußfolgerungen entsprechend handeln, wie es Dich richtig dünkt. Ich ziehe mich zurück und lasse Dich mit James allein. Es steht mir nicht zu, Informationen vor Dir zu verbergen. Wenn jemand das tut, dann Du selbst: Du kannst das Journal ungeöffnet verbrennen. Es ist an Dir.
    Und jetzt lasse ich Dich gehen, Elizabeth, liebe Freundin. Unsere Lebenslinien wanden sich stets umeinander herum, und dort, wo sie sich trafen, gab es jeweils so eine moderne elektrische Entladung. Jetzt gehst Du allein weiter.
    Ich merke, daß es mir schwerfällt, diesen Brief zu beenden. Laß Isaac gut für Dich sorgen. Ich hörte, daß er seine Beförderung zum Kapitän erhalten hat.
    Heute morgen kam mein Hausdiener, um mich zu rasieren. Als er fertig war, ließ er mich das Resultat sehen. Ich sah Dein Gesicht im Spiegel. Du bist ein Teil von mir. So ist es. Hugh
    Sie räumte alles in die Kiste, auch das versiegelte Journal. Todmüde fiel sie ins Bett, wo sie fast die ganze Nacht wach lag. Ruhig, dachte sie, keine übereilten Handlungen, erst auf Ruhe warten. Irgendwann stand sie auf, um die Kiste wieder in den tiefen Schrank zu bugsieren. Holz ächzte gegen Holz. Sie schloß die Schranktür zu und fiel mit dem Schlüssel in der Hand in Schlaf.
    Ende März reiste Isaac mit dem Bescheid ab, daß er bestimmt vier Wochen fortbleiben werde. Gut, dachte sie, jetzt nur noch all die in Dienst gestellten Mädchen wegschicken, dann habe ich Ruhe. Charlotte hatte einen zeitigen Frühjahrsputz in Angriff genommen, und überall im Haus waren Mädchen damit beschäftigt, die Teppiche mit Teeblättern zu bürsten, die Kerzenhalter zu polieren und mit Gänsefedern den Staub von den Büchern zu wedeln.
    »Ich kann das jetzt nicht ertragen«, sagte sie zu Charlotte. »Laß sie in einem Monat wiederkommen, dann ist es immer noch früh genug.«
    Da wurde es still im Haus. Im Obstgarten blühten die weißen Buschwindröschen. Und die Knospen der Pflaumenbäume schwollen. Elizabeth schloß sich in ihrem Zimmer ein, zog das Journal aus der Kiste und legte es auf ihren Tisch. Sie erbrach das Siegel und zog die engbeschriebenen Seiten aus der Verpackung. Es war Zeit.
    Sie hatte in den vergangenen Tagen noch einmal das offizielle Journal gelesen. Die mühsame Fahrt entlang der amerikanischen Küste, der hoffnungslose Versuch, eine nördliche Durchfahrt zu finden, und schließlich der Beschluß, auf den gerade getauften Sandwich-Inseln zu überwintern. Nun las sie die Worte ihres Mannes und stellte sich vor, wie er sich gefühlt haben mochte. Enttäuscht und wütend, als er entdeckte, daß sich die gefürchtete Geschlechtskrankheit im Laufe des Jahres, das nach ihrer ersten Landung verstrichen war, über alle Inseln ausgebreitet hatte; wimmernd kamen die Eingeborenen mit rot aufgequollenen Geschlechtsteilen an Bord, hoffend, daß man sie hier heilen werde. James verbot seinen infizierten

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