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Letzte Reise

Letzte Reise

Titel: Letzte Reise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Enquist
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Hand über den Hals des Vogels fuhr.
    Du hättest dabeisein müssen, schrieb Elizabeth an Palliser. Dein Patenkind. Ich weiß, er war nur ein Schemen für dich. Aber dennoch. Der Kummer scheint mir bei diesem Kind, das mir immer fremd geblieben ist, schwerer zu fallen. Das macht mir sehr zu schaffen. Isaac und Charlotte – weinen und vermissen ihn. Ich bin aus Eis. Jamie, mit seiner praktischen Art, hat den Vogel aufs Büfett gestellt und ist am ersten Tag des neuen Jahres nach Portsmouth abgefahren. Er ist Kommandant eines Kriegsschiffes, der Spitfire.
    Sie stellte Bennys Bücher in sein Zimmer zurück. Mit eiserner Disziplin setzte sie sich dort jeden Tag kurz an seinen Schreibtisch. Sie warf einen Blick in eine theologische Schrift, sie schnupperte an einem Hemd, sie strich über die Tischplatte. Es war Januar, sie blickte durch die kahlen, schwarzen Pflaumenbäume hindurch ins Leere.
    In der Nacht kam ein Sturm auf. Sie saß aufrecht im Bett und war sich sicher, daß ein Unglück bevorstand und sie dieses Unglück würde erdulden müssen. Am nächsten Tag räumte Martin die abgerissenen Zweige im Obstgarten auf. Elizabeth wartete am Fenster. Abends weigerte sie sich, ins Bett zu gehen.
    Um zehn Uhr am nächsten Morgen fuhr die Karosse der Admiralität vor. James Cook junior, Kommandant der Spitfire, im Hafen von Portsmouth ertrunken, als er während des bereits tosenden Sturms noch eilends mit einer offenen Jolle zu seinem Schiff wollte. Die Jolle an den Felsen zerschellt. Jamies Leiche, mit eingeschlagenem Schädel, seines Geldes und seiner Uhr beraubt, am Strand angespült. Die Besatzung der Jolle flüchtig. Die Admiralität ganz Bedauern. Der Wortführer voll des Beileids. Das Wetter plötzlich wundersam ruhig. Die Vorhänge zu, die Tür verriegelt.
    Sie bestatteten ihn bei seinem jüngsten Bruder. Isaac bewies beachtliche Tatkraft und organisierte die gesamte Feierlichkeit. Anschließend machte er seinen ganzen Einfluß geltend, um bei der Marine in Erfahrung zu bringen, was tatsächlich in jener Nacht des fünfundzwanzigsten Januar geschehen war. Er fand es nicht heraus. Ein ordinärer Raubmord unter dem Deckmantel des aufkommenden Sturms, sagte man. So etwas passiere, man könne Pech haben mit den Ruderern, sie schlügen einen nieder, wenn sie wüßten, daß man Geld in der Tasche habe. Oder auch nicht.
    Isaac zerbrach. Er kam kaum mehr aus dem Bett und aß nicht mehr. Wenn er doch im Schlafrock herunterkam, weinte er. Seine dunklen Locken klebten ihm verschwitzt und wirr um den Kopf, und er hatte schwarze Schmutzränder unter den Nägeln.
    Elizabeth drängte in ihrer Korrespondenz mit der Admiralität über Jamies Nachlaß darauf, ihren Vetter Isaac Smith schnellstmöglich wieder in den aktiven Dienst zu berufen. Sie war erleichtert, als ihm bald darauf ein Schiff zugewiesen wurde. Pflicht tat ihm gut. Er ermannte sich, ließ sich eine neue Uniform für seinen abgemagerten Körper machen und reiste ab.
    Dann konnte sie sich endlich gehenlassen. Jahre danach entnahm sie Briefen von Frances, daß Nachbarsfrauen und Freundinnen verzweifelt über ihren beklagenswerten Zustand nach Amerika geschrieben hatten. Daß sie nicht mehr nach draußen, ja nicht einmal mehr von oben herunterkomme. Daß sie innerhalb von drei Wochen nicht mehr als ein kleines Stückchen Fisch gegessen habe. Daß sie seit Monaten jeden Morgen und jeden Nachmittag eine Stunde lang weine und schreie. Daß ihr nichts helfen könne.
    Es war ein Kampf gegen ihren Körper. Sie verlor. Ihre dreiundfünfzigjährigen Knochen, Muskeln und Organe feierten den Sieg, beschädigt, aber intakt. Elizabeth stand auf, zog sich an und ging nach draußen.
    Sie hatte erwartet, daß alles grau sein würde, farblose Schattierungen von Schwarz und Weiß, wie auf den Stichen von Hodges im Reisetagebuch, doch statt dessen sprangen ihr die dunkelgrünen Ladenfronten mit ihren goldenen Lettern entgegen, und das Sonnenlicht prallte schonungslos von einem roten Kutschermantel, einem Korb lila Veilchen, einem himmelblauen Fassadenstein zurück.
    Sie hatte erwartet, daß sie wie nach Nats Tod auf jedermann wütend sein würde, der sie ansprach, ohne an den Verlust zu rühren – als wäre nichts geschehen, als wäre sie dieselbe wie zuvor! –, doch sie registrierte, daß es ihr nichts ausmachte, wenn die Menschen um sie herum sie ohne weiteres in das Leben einbezogen, das jetzt anstand. Da gab es nichts mehr auszutauschen; was ihr widerfahren war, entzog sich den

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