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Letzte Reise

Letzte Reise

Titel: Letzte Reise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Enquist
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nicht aufgepaßt.
    Ein Pferd schnaubte ohne Unterlaß. Menschen kamen in den Garten gerannt und riefen, doch ich stand schon auf der Straße, als erstes sah ich das Spielzeugpferd unversehrt mitten auf der Fahrbahn stehen, aber dann blickte ich zu meinen Füßen hinunter, meinen bloßen Füßen, die Holzpantinen hatte ich wohl abgestreift, keine Haube hatte ich auf, nein –
    »Erzähl einfach«, sagte James. Er hatte sich umgedreht. Sie sprach gegen seinen Rücken. »Die Tatsachen«, sagte er. Tatsachen.
    Elly lag am Boden. Keine Verletzungen, heil. Einen Moment lang hatte sie Erleichterung verspürt: Wir sind davongekommen, es ist nichts! Doch das Kind war weiß und bewegungslos. Sie hatte sich mit bloßen Knien in den Schlamm gekniet, hatte das Kind auf ihren Schoß gezogen, hielt ihre Tochter fest. Über ihrem Kopf schrien die Menschen, sie erkannte Frances' Stimme, schrill und starr zwischen den Männerstimmen. Irgendwer spannte das Pferd aus. Es geschah sehr lange nichts. Seltsamerweise schien die Sonne unverwandt weiter, es blieb einfach Tag, ein Vormittag in London.
    Frances schickte einen Jungen hinüber, um Palliser zu holen. Er sputete sich in spritzendem Wasser über den Fluß. Zum Glück war Palliser in Greenwich und nicht auf der Werft. Er war sofort mitgekommen. Merkwürdig, daß sie sämtliche Kleinigkeiten noch genau vor sich sehen konnte. Seine Schuhe und Hosenbeine waren naß gewesen vom ungestümen Rudern. Matte Schnallen.
    »Die Tatsachen«, sagte der Mann neben ihr. »Wo waren die Jungen?«
    Der Doktor kam. Das war später, als Elly schon im Zimmer lag. Daß James etwas fragte, war gut, ein Anzeichen dafür, daß er zuhörte. Vielleicht hatte die Nachbarin Jamie und Nat aus der Schule geholt. Frances nicht, die war bei ihr geblieben, das wußte sie genau. Frances hatte so gezittert und gebebt, daß sie kaum dabei helfen konnte, Elly das Hemd anzuziehen, das Totenhemd. Elizabeth hatte eine feste Hand gehabt, sie hatte das Mädchen gewaschen, hergerichtet, angezogen. Es war der 9. April 1771.
    Hugh Palliser regelte alles. Er saß in ihrer Küche und löffelte die Suppe, die Frances gekocht hatte. Er empfing den Tischler, den Totengräber, den Pfarrer. Er drängte Elizabeth, sich hinzulegen, aber das konnte sie nicht. Sobald sie den Kopf aufs Kissen legte, breitete sich die Angst über sie wie eine erstickende Decke. Sie saß neben dem Kind. Sie versuchte, die Geräusche aus der Küche wegzuschieben und der Stimme des Kindes zu lauschen, die noch in ihrem Kopf sein mußte, irgendwo, unauffindbar. Sie wartete.
    Frances war zu ihr in das große Bett gekrochen, in jener Nacht und in den folgenden Nächten. Zu wenige Frauen im Haus. Die Tochter war die Frau der Zukunft gewesen, durchfuhr es sie, und diese Zukunft war nun auch rettungslos verlorengegangen. »Die Tatsachen«, sagte James.
    Begräbnis. Das war Männersache. Frauen blieben zu Hause, um etwas zu essen zuzubereiten für die Trauerfeier. Palliser würde in James' Namen gehen. Doch als Elizabeth am Morgen des Begräbnisses aus dem Bett stieg – sobald es hell wurde, eine Erlösung, daß sich der Himmel blaß tönte, daß sie nicht mehr schlaflos war, sondern einfach wach –, wußte sie, daß sie selbst gehen würde. Frances hielt sie nicht davon ab, sondern half ihr mit dem schwarzen Kleid und holte von irgendwoher einen Schleier, den sie vor ihr Gesicht drapieren konnte. Palliser erschien mit den Trägern. Er sah sie neben dem kleinen Sarg stehen und nickte. Sie nahm seinen Arm – ja, derselbe Arm, damals schon, damals schon –, und zusammen waren sie Elly über den Fußweg zum Friedhof gefolgt. Neben den im Gras versunkenen Klinkern blühten weiße Primeln, die Blattrosetten scharf abgezeichnet im schräg einfallenden Sonnenlicht, ein Blütenläufer, soweit sie blicken konnte. Das hatte sie gesehen. Wer zwischen den Bänken stand, als sie sich in die kleine Kirche schoben, wußte sie nicht mehr. Palliser drückte sie auf einen Platz in der ersten Reihe. Er ließ ihre Hand nicht los. Hinter dem durchsichtigen schwarzen Schleier hervor starrte sie auf den Sarg vor ihr. Sie dachte nicht, sie schaute nur.
    Tatsachen, flüsterte James. Es gab keine Tatsachen. Welche Psalmen, welcher Text, welche Gebete – sie hatte es vergessen. Hatte sie damals schon an die Haare ihrer Tochter denken können, an ihren Mund, ihre Kinderknochen, daran, daß sie selbst in die Erde kriechen wollte, um das zarte Skelett zu halten? Nein, das kam erst

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