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Letzte Reise

Letzte Reise

Titel: Letzte Reise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Enquist
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nicht?«
    »Ich würde sie bestrafen«, entgegnete Jamie heftig. »Wenn ich der Kapitän wäre, würde ich Scharfschießen. Um es ihnen auszutreiben. Ich glaube, daß mein Vater zurückgefahren ist und sie alle totgeschossen hat.«
    Sie brauchen einen Vater, dachte sie. Die Stadt schwirrt von Geschichten, natürlich schnappen sie alles mögliche auf und reimen sich etwas zurecht, sie bekommen Angst, sie stellen Fragen, und ich tue so, als wären sie noch klein und ich könnte sie mit Schweigsamkeit schützen.
    Das Schwesterschiff von James' Expedition war im vergangenen Jahr zurückgekehrt, allein. In dem unvorstellbaren Nebel am Südpol hatten sich die Schiffe verloren, und das verabredete Rendezvous war mißglückt. Als das Schiff in London einlief, war ein Passagier zuviel an Bord: Der Kapitän hatte einen Eingeborenen mitgenommen, um ihn dem englischen Volk zu zeigen. Er hieß Omai und wurde sogleich von Banks adoptiert. Es fehlten auch einige: Die vollzählige Bemannung eines Beibootes war an einer fernen Südküste von Wilden verspeist worden. Sie hatte die Zeitungsberichte gelesen und gehofft, es den Kindern verschweigen zu können.
    »Das glaube ich nicht, Jamie«, hörte sie Palliser sagen. »Ich denke, daß dein Vater versucht, diese Menschen zu verstehen. Das ist nicht feige, sondern vernünftig.«
    »Vielleicht essen sie ihn auch auf!«
    Sie ging in die Küche zurück und sah Palliser beruhigend den Kopf schütteln. »Dein Vater ist auf der Hut, er läßt es nicht so weit kommen. Und außerdem: Er ist schon beinahe wieder hier, und alle seine Männer leben noch.« Er stand auf, um sich zu verabschieden.
    Frances. Sie würde Frances schreiben, damit es für einen Moment so war, als spräche sie mit ihrer Freundin. So viele Männer, auf Schiffen, in Küchen, mit Geschichten und Urteilen. Heute abend, wenn die Jungen im Bett lagen, würde sie sich ihrer Freundin in Amerika gegenüber aussprechen. Sie würde von den hastig hingeworfenen Sätzen aus James' Brief schreiben, von der Selbstverständlichkeit, mit der die Seefahrt ihre Söhne einforderte, von den Gesprächen mit Palliser – sollte sie von der bizarren Szene mit seinem nackten Arm erzählen? Vielleicht war es gar nicht wirklich passiert, es konnte fast nicht wahr sein, auch wenn sie das Muster der Haare auf seinem Arm deutlich vor sich sah. Auch wenn sie seine Wärme noch auf ihren Wangen fühlte.
    Daß der Tisch im großen Zimmer gescheuert und gewachst glänzte, leer und kahl, das würde sie erzählen.
    Du solltest wieder jemanden zu dir nehmen, der dir hilft, hatte James vor seiner Abreise gesagt. Gesellschaft, wie Frances. Sie hatte das abgelehnt. Was sollte sie mit einer fremden Frau im Haus, einer neuen Stimme, bei der noch abzuwarten stand, ob sie sich mit der ihren mischen würde? Sie war diesmal lieber allein geblieben. Und jetzt konnte sich kein Unglück mehr ereignen, der kleine George war schon vor zweieinhalb Jahren gestorben, sie hatte sich wieder im Griff, sie würde ihrem zurückgekehrten Mann wie ein Fels in der Brandung gegenüberstehen. Gegen Ende so einer Reise durfte nichts geschehen, was einen aus dem Gleichgewicht warf, es galt, alles wie gewohnt auf Vordermann zu bringen, die Pflanzen, die Möbel, die Menschen. Bitte keine Störungen.
    Heute morgen hatte sie kurz die Zügel schleifen lassen. Das ging jetzt nicht mehr, das mußte vorbei sein. Auch das verschwommene Zeitempfinden mußte ein Ende haben; sie hatte keine Ahnung, wie weit der Tag fortgeschritten war, und kam sich vor, als sei sie immer noch in jenen eigentümlichen Moment am Küchentisch eingetaucht. Sie rieb sich über das Gesicht und schüttelte den Kopf wie ein Tier, das eine lästige Fliege loswerden muß.
    Jamie kam mit einem Eimer nach draußen und begann zu pumpen. Nat, sie ging Nat abholen. Natürlich gab es einen Plan für den Tag. Ein Spaziergang, ein Gespräch, eine Mahlzeit. Ein Zeitplan, in den man einstieg wie in ein Boot.
    Hinter ihr fiel das Gartentor ins Schloß. Sie überquerte die Straße und betrat den Pfad, der zwischen zwei Reihen Gärten zum Fluß führte. Das Wasser blinkte in der Ferne. Sie freute sich darauf, es gefiel ihr, daß dort Wasser war, das ließ sich nicht leugnen. Dennoch war James der Wasserliebhaber, nicht sie. Eingegrenztes Wasser, dachte sie, Wasser in Gräben, in einem Fluß mit sichtbaren Deichen, in einem von Weiden gesäumten Teich – das liebe ich. Seine Liebe zum Meer hatte sie nie richtig nachempfinden können,

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