Letzte Reise
später.
Die Leute knieten und hielten die Augen geschlossen. Sie nicht. Sie schaute zur Orgel empor und sah Herrn Hartland am Doppelmanual sitzen. Seine großen, weißen Hände lagen in seinem Schoß, und er spähte vornübergebeugt in die Partitur, die auf seinem Notenständer stand. Er drehte den Kopf zu ihr um, als habe er ihren Blick gespürt. Nein, sie hatte sich nicht geschämt, sie hatte geradezu hungrig zu dem alten Mann hinaufgeschaut, seine zerknitterten Wangen und der glänzende Schädel unter den spärlichen Haarsträhnen hatten sich in ihr Gedächtnis eingegraben, sie hatte ihm lange und ohne zu blinzeln ins Gesicht geschaut. Sie hatten sich nicht angelächelt.
Erst als der Pfarrer das Amen sprach, hatten sich ihre Blicke voneinander gelöst, und sie hatte auf die Steine vor ihren Füßen geschaut. Stein, hatte sie gedacht, Stein, Holz, Erde. Es näherte sich der Moment, da der Sarg nach draußen getragen werden würde. Sie hatte versucht, ruhig zu atmen. Obwohl sie von einem Meer schwarzgekleideter Menschen umgeben war, fühlte sie sich völlig allein. Aufstehen. Die Träger herbeitreten sehen. Sich langsam drehen, um den schleppenden Fortgang der Prozession zu verfolgen. Ein unnahbarer, allein stehender Baum auf einer Wiese, das war sie. Da hatte Herr Hartland zu spielen begonnen. Im ersten Moment hatte sie der volle Orgelklang erschreckt, denn es ertönte ein schwungvolles, freudiges Lied, das nicht zu dem zu passen schien, was sich unten auf dem Kirchenboden abspielte. Sie sah den Pfarrer verstört aufblicken; Palliser neben ihr hielt den Atem an. Dann drückte er ihre Hand und lächelte ihr kurz zu. Händels Wassermusik, wußte sie plötzlich. Sie erkannte die Melodie. Der alte Organist rief das Meer wach, erinnerte sie daran, daß es James gab, daß ihr Mann dort draußen, weit weg, auf dem Wasser fuhr und zu ihr zurückkehren würde, daß nicht alles verloren war. Der kleine Sarg war bis zur Hälfte des Mittelgangs vorgerückt. An Pallisers Arm folgte sie, von Musik umspült. Der volle Klang machte reinen Holzbläsertönen Platz. Es war, als spielten Oboen, Flöten und Fagotte das zarte Trio in vollendeter Einheit. Dem ersten Anschein nach hörte es sich wie ein fröhliches Lied an, doch sie wußte es besser, und Herr Hartland auch. Die Art, wie er die kurzen, schmachtenden Phrasen jeweils abschloß, brach ihr das Herz. So war es. Ein hüpfendes Mädchen auf der Straße. In der Sonne. Unter der schwarzen Kutsche.
»Tatsachen«, fragte James. »Wer lenkte den Wagen?«
Natürlich. Ja. Der Kutscher hatte sich nicht getraut, ihr seine Aufwartung zu machen. Er hatte seine Frau vorbeigeschickt, mit einem halben Spanferkel als Sühneopfer. Frances hatte sie empfangen, während Elizabeth oben, im Schlafzimmer, reglos vor dem Fenster stand.
James drehte sich auf den Rücken. »Was hast du mit dem Ferkel gemacht?«
Sie sah den halbierten Tierleib vor sich, wie er auf einem Jutesack am Herd gelegen hatte, rosa, mit weißen Knochensplittern, so groß wie ein Kind.
»Frances hat sich darum gekümmert. Verschenkt. Begraben. In den Fluß geworfen. Ich weiß es nicht, wir haben nie mehr darüber gesprochen.«
Ich liege mit meinem Mann, den ich drei Jahre nicht gesehen habe, im Bett und rede von einem Schwein, hatte sie gedacht. Unsere Tochter ist gewaltsam ums Leben gekommen, und er fragt mich, was wir mit dem Schwein gemacht haben. Ich antworte, aber unter diesem Gespräch liegt eine Frage, der wir nicht die Stirn bieten können. Ich kann sie nicht einmal laut aussprechen. Ich kann sie kaum denken. Aber es muß sein.
Sie ließ sich zurücksinken, bis sie den Kopf neben den seinen aufs Kissen legen konnte. Sie schaute zur Seite und sah, daß er weinte. Es ist meine Schuld. Ich hätte sie behüten müssen. Ich war die Mutter. Die Treppe habe ich mit einem Gitter verriegelt, und die Fleischmesser legte ich aus ihrer Reichweite. Das Gartentor habe ich nicht geschlossen. Ich beschützte sie bis zu diesem einen Mal, es war beinahe vollbracht, du warst schon auf dem Heimweg, beinahe …
James schneuzte sich die Nase und begann zu sprechen. Sie begriff anfangs nicht, wovon er redete, und ließ die Sätze wie Wellen über sich hinwegschwappen. Ein Korallenriff, Dunkelheit, ein Schlag, ein Krachen. Das Schiff hatte sich festgelaufen und füllte sich mit Wasser. Von Todesangst getrieben, hatten alle an den Pumpen gestanden, auch die Offiziere und die Wissenschaftler. Sie hatten die Kanonen über Bord gekippt,
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