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Letzte Reise

Letzte Reise

Titel: Letzte Reise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Enquist
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nirgendwo, gegen den Wind an, Schritt für Schritt. Doch der Fluß war ein stiller Spiegel, und die Luft war lau.
    An Land bekamen die Männer Frischkost, man rührte die Vorräte nicht an, wenn es Wild zu schießen und Obst zu pflücken gab. Dort irgendwo verbarg sich die Lösung. Auf See aßen sie eingesalzenes Fleisch, das einen unsäglichen Gestank verbreitete, und steinharten Schiffszwieback, in den die Maden Löcher gebohrt hatten. Das Schiff mußte zum Festland werden, mußte eine Insel sein, auf der Tiere und Pflanzen leben konnten. Hühner! Kleine Gärten in Kisten hinter dem Mast! Doch der Wind blies die Vögel von Bord, und der Regen spülte die Erde fort. Dennoch hatte er sein Heil darin gesucht, so gut wie möglich die Bedingungen an Land nachzuahmen. Als erstes hatte er den Koch entlassen, einen faulen und dummen Mann, den das Ernährungsproblem nicht scherte. Sein Nachfolger, der sich im Auftrag der Marine vorstellte, war ein großer Kerl, mit dem man sich gut und fruchtbar beraten konnte. Er hatte nichts dagegen, pürierte Erbsen, Möhrensaft und Suppenextrakt in seinen Gerichten zu verarbeiten, und regte von sich aus getrocknete Feigen und Rosinen an. Leider war ihm von einer abgesprungenen Trosse der linke Arm abgeschlagen worden, doch mit dem rechten hatte er eine verblüffende Geschicklichkeit entwickelt.
    Hörte sie noch zu? Sie hörte ihn schon, die Worte wogten durchs Schlafzimmer, und sie fühlte, wie seine Rippen, sein Brustkasten mitvibrierten. Es kam ihr seltsam vor, daß sie nicht mehr allein war; eigenartig, daß jemand Löcher in ihre Gedanken stach, sich mit Bildern und Begriffen zu Wort meldete, die für sie jetzt nicht wichtig waren. Er ist dein Mann, hatte sie gedacht, hör zu, sammle dich.
    Das Gartenprojekt war fehlgeschlagen, doch das Verlangen nach Gemüse blieb der Leitfaden für die Umstellung der Verpflegung an Bord. Wer an Land ging, mußte neben seinen regulären Aufgaben – Füllen der Wassertonnen, Aufstellen des astronomischen Fernrohrs – Ausschau nach allem Grünen halten und durfte ja nicht ohne einen Blätterstrauß im Hemd, Giersch, Malve, Beinwell und was dem auch nur entfernt ähnelte, wiederkommen. Der Kochsmaat sammelte die Gaben ein und brachte sie seinem Chef, der alles mit seinem einen Arm auf dem Hackblock zerkleinerte. Das bittere Mus rührte er dann am nächsten Morgen in den Graupenbrei. Frühstück.
    Wenn es kein Land gab? Dann gab es Sauerkraut. Alle hatten ihn für verrückt erklärt, als er die stinkenden Fässer an Bord schleppen ließ. Der in dünne Streifen geschnittene Kohl vergor in Salz, Explosionen wurden durch schwere Steine auf den Deckeln verhindert. Wie sollte man dieses saure, verdorbene Zeug hinunterbekommen? Die Matrosen liefen würgend durch den Vorratsraum. James hatte bezweifelt, daß die Androhung von Stockschlägen hier etwas ausrichten konnte.
    »Ich mußte an unsere Jungen denken«, sagte er und drehte sich zu ihr um. Die gebräunte Haut seines Halses ging dort, wo sein Uniformkragen gesessen hatte, in fahles Weiß über. Wenn Jamie und Nat ihre Eltern etwas essen sähen, was sie nicht bekämen, seien sie ganz begierig darauf und quengelten so lange, bis sie auch davon kosten dürften. Er hatte dem Koch aufgetragen, das Sauerkraut ausschließlich den Offizieren zu servieren, und die wurden instruiert, sich reichlich davon aufzutun und den Geschmack des Gerichts lauthals zu rühmen. Die Mannschaft protestierte gegen die Ungleichbehandlung. Alle verlangten Sauerkraut.
    Was soll das, hatte sie gedacht. Wie gelähmt lagen ihre gefalteten Hände auf ihrem Magen. Sie sah in der Ferne, dort, wo ihre Füße sein mußten, eine Wölbung in der Decke, fühlte jedoch nichts. Auch in ihrem Kopf schien sich kein Funke mehr zu regen.
    Das Kind starb, weil ich nicht achtgab.
    Die Worte waren da, hatten aber keine Bedeutung. Schuld. Unglück. Sauerkraut.
    James' Stimme: »So ist das gelaufen. Alle blieben gesund. Keine losen Zähne, keine Kniegelenke wie blaue Kanonenkugeln. Kräftig und wohlauf kamen wir in Batavia an. Ich wollte meine eigenen Zimmerleute die Reparaturen machen lassen. Aber die geldgierigen Holländer verweigerten uns das, sie wollten natürlich an uns verdienen. Streitereien, Verzögerungen. Am Ende gewann ich, aber da war es schon zu spät, und das Sumpffieber hatte zugeschlagen. Was ich auch verordnete: entseuchen, ausschwefeln – es half nichts mehr. Meine Männer wanden sich in Fieberphantasien und konnten keine Nahrung

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