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Letzte Reise

Letzte Reise

Titel: Letzte Reise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Enquist
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den Wasservorrat, die Fleischtonnen. Nach einem Etmal waren sie wie durch ein Wunder wieder flottgekommen und trieben auf dem havarierten Schiff steuerlos am Riff vorüber. Er hatte seine Mannschaft um Rat gefragt, im Morgengrauen, im eisigen Wind hatten sie in einem Kreis an Deck gestanden, während wenige Meter unter ihnen das Wasser durch ein großes Leck in den Schiffsraum strömte. Der Bruder des Wundarztes hatte eine Lösung gewußt. Auf seine Anweisungen hin zurrten sie ein mit Dung und zerfasertem Tau eingeschmiertes Segel um die zerborstene Schiffswand, ein gewaltiger Akt mit Seilen und Taljen; ein jeder hatte die Befehle schweigend, mit starrer Miene befolgt.
    Es funktionierte. Das Segeltuch haftete auf der Schiffshaut und verschaffte ihnen ausreichend Luft, um den Strand zu erreichen. Dort lagen sie anderthalb Monate, um das Schiff zu reparieren.
    »Ich habe ein großes Risiko in Kauf genommen«, sagte er, »und ich frage mich noch immer, ob ich es anders hätte machen können.«
    Elizabeth schwieg. Durch das offene Fenster wehte der Geruch des Flusses herein. Wo ist sie, wo ist sie – sie ist auf dem Friedhof, sie ist allein. Still, weg mit diesen Gedanken, hör zu.
    Das Schiff war provisorisch instand gesetzt, doch es machte weiterhin Wasser. Die Segel hingen in Fetzen herab, die laue waren zerfranst. Sie hatten im Hafen von Batavia angelegt. Es blieb ihnen nichts anderes übrig.
    »Kein Skorbut auf meinem Schiff«, sagte James. »Ich war drei Jahre unter den ärgsten Bedingungen umhergefahren und hatte nicht ein einziges Besatzungsmitglied durch die Seemannskrankheit verloren. Niemanden. Wir gingen in Batavia kerngesund von Bord. Die Holländer trauten ihren Augen nicht. Der Zustand des Schiffes bewies, was wir hinter uns hatten, aber die kräftigen Körper und vollen Wangen der Männer ließen sich nicht damit in Einklang bringen. Darauf war ich stolz. Ich saß in meiner Kajüte und schrieb nach London: Keinen Mann verloren!
    Es ist eine Frage der Willenskraft. Der Disziplin. Ich drohte mit Peitschenhieben, wenn sie sich nicht wuschen. Nicht, daß ich meine Androhung je in die Tat umgesetzt hätte. Bettzeug lüften, Kleidung säubern, sobald es das Wetter zuließ. In Meerwasser, die Hemden knarrten vor Salz, aber trotzdem. Ich behielt die Alkoholration ein, wenn sie das Schiff verunreinigten. Anfänglich weckte das Widerstand, weil sie es nicht gewohnt waren. Ein Seemann kommt sich ganz groß vor, wenn er drei Jahre im selben Hemd herumläuft. Den Gestank bemerken sie nicht mehr, oder er ist ihnen lieb geworden.«
    Er ist noch nicht zu Hause, hatte sie gedacht. Er hat nicht Schritt gehalten mit der Schnelligkeit seines Schiffes und hinkt hinterher. Er kann noch nicht in seinem eigenen Bett liegen und um das Kind weinen, er steht noch an Deck und schreit und verteilt Eimer aus Segeltuch, um Wasser heraufzuziehen. Er liegt zwar hier, aber er ist noch nicht da.
    Die Ernährung war von größter Wichtigkeit. Wenn es ihm gelänge, ein Mittel gegen die Krankheit zu finden, wäre das in der Geschichte der Seefahrt ein Riesenschritt. Die Ernährung mußte der Schlüssel sein. Es war eine Gesetzmäßigkeit, daß Zahnfleisch nach etwa sechs Wochen auf See anzuschwellen begann. Die Zähne lockerten sich und fielen aus. Unter der Haut entstanden blauschwarze Stellen, weil die Adern das Blut nicht mehr halten konnten. Es sickerte in Muskeln und Gelenke, bis jede Bewegung unmöglich wurde. Die Schmerzen waren unerträglich, sie zwangen den Kranken, still liegenzubleiben, bis der Tod eintrat. Die Herren von der Marine fanden das normal, ein Naturgesetz! Sie kalkulierten es bei der Anmusterung mit ein: Immer mehr Leute einstellen als nötig, denn die Hälfte würde ohnehin sterben. Das galt als vernünftig. Er fand es dumm. Warum wurde ein Mensch auf See krank, nicht aber an Land? Was war der Unterschied? Es mußte einen Grund dafür geben. Achtgeben. Nachdenken. Experimentieren. Sich nicht mit unverstandenen Tatsachen abfinden, sondern versuchen, sie zu ergründen.
    Elizabeth wußte noch, daß sie leise Mißgunst verspürt hatte, als sich sein Erzähltempo beschleunigte und seine Stimme tiefer wurde. Er regte sich über etwas auf, er hatte etwas, was ihn umtrieb, was er wollte. Und was wollte sie? Sturm, sie wünschte sich einen eisigen Sturm, der die Wellen auf der Themse gegen die Kaimauern peitschen würde. Sie würde sich eine Haube fest um den Kopf binden, das schwere Umschlagtuch nehmen und losgehen. Nach

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