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Letzte Reise

Letzte Reise

Titel: Letzte Reise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Enquist
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mehr bei sich behalten. Nun konnten die Holländer ihr Geld mit der Reparatur des Schiffes verdienen, aber die Rechnungen habe ich nicht bezahlt! Einer nach dem anderen starb. Sogar den Arzt mußten wir begraben. Ich habe ohne Genehmigung des Hafenmeisters abgelegt. Auf See ging das Sterben weiter, jeden Tag mußten wir Besatzung über die Reling gleiten lassen. Männer, mit denen wir drei Jahre lang alle Abenteuer geteilt hatten. Aber ich nahm es kaum wahr, weißt du. Ich war nur wütend auf diese Holländer mit ihren dreckigen, stinkenden Kanälen. Derweil war mein triumphierender Brief auf dem Weg nach London.«
    Sie hatte versucht, sich das Totenschiff vorzustellen, die in Segeltuch eingenähten Leichen, die, mit Steinen beschwert, auf einer Planke über die Reling geschoben wurden. Irgendwer mußte dann wohl aus der Heiligen Schrift lesen und ein anderer ein Signal auf der Trompete spielen. Die Überlebenden standen wohl ängstlich oder mißmutig im Halbkreis an Deck. Während ich in der Waschküche Laken wusch, dachte sie. Während ich nicht achtgab. Wie sollen wir diese beiden Welten zusammenbringen? Hoffnungslos, vergebliche Liebesmüh. In der Ferne, am Fluß, schrien plötzlich die Gänse. Das beunruhigende Geräusch schwoll an und erstarb wieder. Wer las an Bord Bibeltexte vor? Das war die Aufgabe des Arztes, weil James keinen unnützen Pfaffen mitnehmen wollte, aber der Arzt war tot. Wenn keiner mehr am Leben war, der auf dem Bügelhorn spielen konnte, vollzog sich die Zeremonie dann im stillen? Knarrende Taue, die gegen die Reling schlagende Planke, der Plumps, wenn die Leiche die Wasseroberfläche durchschnitt.
    »Elizabeth«, sagte James, »ich verlor binnen weniger Wochen dreißig Mann. Dreißig Mann. Man könnte sagen, daß es meine Schuld war. Ich führte das Kommando. Ich entschied, den Hafen von Batavia anzulaufen. Ich erlaubte der Mannschaft, an Land zu gehen. Ich hätte so für meine Männer sorgen müssen, daß sie sicher nach Hause kommen würden. Das war meine Aufgabe, und die habe ich versäumt. Ich bin Risiken eingegangen. Daß wir auf das Riff aufliefen, war die Folge so eines Risikos. Es ist erstaunlich glimpflich abgelaufen, aber es hätte auch ganz böse enden können. Batavia war ein weiteres Risiko. Und dort ging es böse aus. Unter meinem Befehl. Ich habe viel darüber nachgedacht, das hat mich während der gesamten Heimreise um den Schlaf gebracht. Habe ich dreißig Männer in den Tod getrieben? Ermordet? Ich weiß es nicht. Die Reue hat mich verzehrt, verzehrt mich auch jetzt noch, Reue, daß ich meine Hoffnung in die Holländer und ihre stinkende Niederlassung gesetzt habe. Gewissensbisse, Schuldgefühle. Aber auch Wut, so unbändige Wut, daß es mich nicht im Bett hielt. Was da geschah, hintertrieb meine Pläne. Ich wollte meine Männer nicht dahinsiechen sehen, ich habe uns diese Krankheit nicht aufgehalst, ich –«
    Er verstummte. Sie hörte sein erregtes Atmen allmählich gleichmäßig und ruhig werden. Das Zimmer tönte sich grau, der Tag kündigte sich an.
    »Es geschah. Ein Unglück geschieht. Man kann es nicht vorhersehen, nicht immer. In gewissem Sinne ist man den Umständen ausgeliefert. Man ist verpflichtet, so gut wie möglich achtzugeben. Aber man ist nicht unfehlbar. Die eigene Macht reicht, so weit sie reicht. Nicht weiter. Es bleibt immer ein Bereich, wo man machtlos ist. Ich kann das eigentlich nicht akzeptieren, aber ich denke schon, daß es so ist. Verstehst du?«
    Blaßgelb war der Himmel vor dem Fenster. Es war, als werde es auch in ihrem Kopf heller. Sie zog die Beine an und dehnte ihre steifen Muskeln. Sie spürte die Wärme des Mannes, der neben ihr lag. Es geschieht, dachte sie, man verhandelt mit seiner Angst und seinem Verstand und trifft eine Entscheidung, die sich meistens als richtig erweist und manchmal, fatalerweise, nicht. Das Schuldgefühl bleibt, denn man ist an seine Entscheidung gebunden. Dennoch sind wir dem ausgeliefert, was geschieht. Ich. Er.
    Die Starre war aus ihrem Körper gewichen. Sie hatte sich an James geschmiegt. Es war schon Morgen gewesen, als sie erschöpft eingeschlafen waren.
    Wieviel Zeit hatte sie noch? Einen Monat, sechs Wochen? Sie schauderte und atmete den metallischen, süßen Geruch des Flußwassers ein. Diese Rückkehr würde anders sein. Die Aussicht auf ein beständiges Leben mit einem Mann, der zu Hause war und zu Hause blieb, sollte sie stark machen. Sie trat von der Kaimauer zurück und war sich der Kraft in ihren

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