Letzte Reise
Waden bewußt. Ihre Haube hatte sich gelockert, sie zog sie vom Kopf, damit sie den Wind in den Haaren spüren konnte. Ich stehe aufrecht am Fluß, dachte sie, ein neues Leben kommt, und ich werde einsteigen, ohne Bedenken. Sie wandte dem Wasser den Rücken zu. Die Sonne hatte endlich die grauen Wolken aufgelöst und erwärmte den dunklen Stoff ihres Kleides. Es ist nichts, fühl doch, sogar das Sonnenlicht stützt dich. Sie spähte den Kai hinab und sah in der Ferne eine schmale Gestalt gehen, einen schwarzen Kasten in der Hand.
Geraume Zeit nach Ellys Begräbnis war sie an einem windigen Tag dem Organisten auf der Straße begegnet. Sie hatte ihn zuerst nicht erkannt, blickte bei diesen täglichen Verzweiflungswanderungen auch kaum um sich; sie mußte laufen, mußte weiter, ein Bein vor das andere setzen, die Minuten mußten vorbeigehen, die Stunden mit Taten gefüllt werden, die nicht auf eine ohnehin nicht zu ertragende Zukunft hinzielten. Die Blicke der Menschen auf der Straße konnte sie nicht ertragen, und sie tat, als wäre sie allein in der vollen Stadt. Entstellt fühlte sie sich, sichtbar beschädigt und gedemütigt. Sie mußte sich verstecken, erstickte aber in dem düsteren Haus. Also lief sie.
»Frau Cook?« hatte eine sanfte Stimme nah bei ihrem Gesicht gesagt. Erschrocken schaute sie auf, blinzelte, um das Bild scharf zu bekommen, und sah Hartlands freundliches Gesicht. Er lächelte nicht, sondern sah sie eindringlich an. Sie entsann sich ihres eigentümlichen Kontakts während des Gottesdiensts, und wie er sie später mit seiner wohlgewählten Musik hatte trösten wollen.
Sie sei willkommen, hatte er bei der ungemütlichen Begegnung gesagt. Er denke oft an sie und würde sie gern empfangen, wenn sie, von den Wanderungen ermüdet, kurz bei jemandem zur Ruhe kommen wolle. Zu ihrem eigenen Erstaunen hatte sie das ein paarmal getan. Seine Haushälterin hatte Tee gebracht oder Bier, wenn es ein warmer Tag war, und sie hatte in dem extrem unordentlichen Arbeitszimmer des Organisten gesessen, ohne etwas zu sagen. Er blätterte in seinen Partituren und sprach von der Kraft der Musik. An der Wand hingen Instrumente: Flöten, eine Oboe, eine Geige.
Was tue ich hier, hatte sie gedacht, was habe ich hier zu suchen? Ich verstehe nichts von Musik, was will ich von diesem Mann, das ist doch widersinnig. Nach und nach hatte sie begriffen, daß es durchaus nicht widersinnig war. Er war ein Geächteter, ein Außenstehender wie sie, zur damaligen Zeit. So wie er darum kämpfte, im Gottesdienst Raum und Aufmerksamkeit für die Musik zu schaffen, so wollte sie um die Erinnerung an ihr Töchterchen kämpfen.
Seit der kleine Nathaniel an Deck der Resolution den Geigenspieler gehört hatte, ließ ihn das nicht mehr los. Tagaus, tagein hatte er ihr in den Ohren gelegen, daß er das auch können wolle, diese Lieder spielen, er wolle Geiger werden, er wolle eine Geige.
Sie fragte Hartland um Rat, und Nat bekam Geigenunterricht. Zu Beginn rannte der Junge jedesmal, wenn er üben wollte, zu dem Organisten, um das Instrument stimmen zu lassen. Doch schon bald konnte er es selbst. Wenn er spielte, saß sie am Küchentisch und lauschte. Er erzählte ihr Geschichten ohne Worte. Daß er eine leidenschaftliche Liebe zu einer Sache entwickeln konnte, die er ganz aus eigener Kraft entdeckt hatte, machte sie glücklich.
Dort lief er, ihr jüngster Sohn. Der Geigenkasten schlenkerte an seinem langen, mageren Arm, und der Wind blies ihm das dünne blonde Haar in die Augen. Er sah sie und winkte mit der freien Hand. In einem Jahr würde auch er zur Seefahrtsschule gehen, was konnten Kapitänskinder anderes tun, das war der Lauf der Welt. Er wollte zwar nicht, wußte aber nichts dagegen zu sagen – jetzt freilich, hier, lief er mit seiner Geige und lachte seiner wartenden Mutter zu.
Alles wird gut werden, wußte sie plötzlich. Die Jungen würden einen Vater haben, der nicht mehr fortginge, der mit ihnen sprechen würde, über die Seefahrt und den Sternenhimmel und die Wissenschaft, der zufrieden wäre mit dem, was er erreicht hatte, und seine ganze Aufmerksamkeit der Laufbahn seiner Kinder widmete.
Blitzartig sah sie das kantige Gesicht Hugh Pallisers vor sich. In ihrer Küche war heute morgen etwas passiert, woran sie nicht zurückdenken konnte. Sie fühlte noch die Haut seines Arms an ihren Lippen und erschrak und ächzte unwillkürlich. Es ist nichts, dachte sie, eine Schwäche, unerklärlich und vorübergehend – es ist
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