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Letzte Reise

Letzte Reise

Titel: Letzte Reise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Enquist
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mit in die Küche und gab ihm etwas zu trinken. Er war so aufgeregt, daß er nicht sitzen bleiben konnte; er sprang von seinem Stuhl auf und strich um sie herum, während sie die Blumen ins Wasser stellte. Sie ordnete die Stiele in der Vase und lauschte der hohen, lauten Stimme. Ob das der Teller des Kapitäns sei, das sein Stuhl? Wie strahlend weiß die Kapitänshose auf den sonnenüberströmten Stufen des Admiralitätsgebäudes ausgesehen habe, wie prächtig die goldenen Tressen, wie vornehm die graue Perücke! Sie tastete in ihrer Schürzentasche nach einer Münze und bugsierte den Jungen hinaus. Vor der Tür blieb er stehen und starrte sie verblüfft an, das Geld in der Faust. Dann drehte er sich um und rannte die Straße hinunter.
    Die Blumen, plötzlich zum Willkommensstrauß geworden, prunkten in Rosa und zartem Grün in der Tischmitte. Sie schüttelte den Kopf und setzte sich. Die Arme um den Leib geschlungen, schaukelte sie langsam vor und zurück. Einen Kilometer entfernt saß James jetzt auch an einem Tisch und erstattete Lord Sandwich, Stephens, vielleicht auch Palliser Bericht über seine Reise – in Kurzform, denn er würde es eilig haben und nach Hause wollen. Zu ihr. Je mehr Ortswechsel und Bewegung sie sich ausmalte, desto größer wurde die Verstummung, die sie erfaßt hatte. Die Bratpfanne, Fleisch mußte sie braten, Gemüse schneiden, das Bett frisch beziehen, die Siebensachen der Kinder aus dem Blickfeld räumen, ein anderes Kleid anziehen, es ging noch, sie hatte noch eine Stunde, eine halbe Stunde, einen Augenblick –
    Er kam hinten herum. Ein Schatten fiel über das Küchenfenster, sie schaute auf und sah ihn im Garten stehen. Er riß sich die Perücke vom Kopf und warf sie auf den Gartentisch. Mit beiden Händen massierte er seine Kopfhaut unter dem spröden dunkelbraunen Haar. Breitbeinig stand er im Garten und schaute zur Quitte, zur Agave, zur Palme. Jetzt, dachte sie, jetzt. Hierauf habe ich jahrelang gewartet. Er hält sich noch im Garten auf, muß den Kopf im Wind haben. Er geht zunächst zu seinen Auftraggebern und dann erst zu mir. Warum fühlen sich meine Beine so schwer an, leicht wie eine Feder müßte ich ihm in die Arme springen, denn schau, dort steht er! Flüchtig schossen ihr die Gedanken durch den Sinn, ohne einen Platz zu bekommen, sie dachte was, machte was. Ihre Hand fuhr durch die rosafarbenen Blumen, wie zart sie waren, zart und zugleich stabil, na los, lauf zur Tür, zieh sie auf und geh hinaus, es gibt keinen anderen Weg als den in den Garten.
    Sie zog ihre Jacke zurecht und rieb sich kurz über den Hals. Zehn Schritte. Er lief, schwungvoll mit einem Mal, auf sie zu. Sie hob das Gesicht zu ihm auf. Beide stockten sie in ihrer Bewegung. Ein Graben von einem halben Meter blieb zwischen ihren Körpern. Seine Arme hoben sich, sie sah die Hand mit der blassen Narbe, sie schwebte vor ihrem Gesicht, und für einen Moment war sie völlig gelähmt. Dann küßte sie seine Finger und trat einen Schritt vor, bis sie in seinen Armen stand.
    Er ging durchs Haus, als inspiziere er ein Schiff. Als er über die Schwelle trat, senkte er den Kopf, so wie er es tat, wenn er die niedrige Kajüte betrat. In Küche und Stube schaute er sich um, und sie sah, wie die Maße unter seinem Blick schrumpften.
    Er mußte das Fehlen von Spielzeug, einem Kinderjäckchen, einem bekleckerten Lätzchen registrieren, es konnte nicht anders sein. Mit seinen langen Beinen lief er an den Wänden entlang und durchmaß mit wenigen Schritten die armselige Tiefe der Räume. Hin und wieder nahm er kurz einen Gegenstand in die Hand – eine kleine Schale, einen Zeichenstift; er strich über den gerundeten Boden eines Kupfertopfs und legte die Hand einen Augenblick auf den freigeräumten Tisch. In der Küche beugte er sich über den Blumenstrauß und atmete über den rosafarbenen Blüten tief ein. Schließlich saßen sie einander gegenüber.
    Sie stellte die Füße auf den Steg ihres Stuhls, so daß sie die Arme um die Knie schlingen konnte. Es gibt nur einen Tod, dachte sie, und alle Tode danach rühren wieder die eisige Verzweiflung über jenen ersten auf. Weinte er über George, ein Kind, das er nie im Arm gehalten hatte, ein Kind aus einer Erzählung? Über das Einstürzen der Erwartungen, die er wegen ihrer Schwangerschaft gehegt hatte? Über das Bild von der Seemannsfrau, die ihr Kind allein begraben mußte? Sie konnte es sich nicht anders vorstellen, als daß sämtliche Tränen nur einen Ursprung hatten

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