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Letzte Reise

Letzte Reise

Titel: Letzte Reise Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Enquist
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weißt du dann, wie es heißt?«
    »Das fragt man doch die Wilden«, sagte Jamie ungeduldig. »Es ist ihr Land, sie werden den Namen schon wissen.«
    »Aber wenn da keine Menschen sind? Oder wenn man sie nicht verstehen kann? Sie sprechen nämlich ganz anders als wir!«
    »Wenn man ein Land entdeckt, gibt man ihm einen Namen«, sagte James. »Man mißt, wo es genau liegt, man zeichnet es auf der Karte ein, und man denkt sich einen Namen aus. Den schreibt man dann dazu.«
    Aber wie das denn gehe, wollten sie wissen, und James erzählte von Buchten, die er danach benannte, was sie dort vorfanden, wie die Bucht der Fülle und die Armutsbucht; von Kaps und Klippen, denen er die Namen seiner Freunde und Vorgesetzten gab. Manchmal benannte er eine Insel nach dem Matrosen, der sie als erster gesehen hatte.
    Die Sonne schien ihr heiß auf die Schultern. Sie nahm ihr Umschlagtuch ab und legte es neben sich ins Gras. Aus der Schüssel stieg der Geruch der Johannisbeeren auf, so stark, daß er fast schon ins Widerliche umschlug, aber noch war er köstlich. Es gebe kein Südland, hörte sie James erklären, der Südkontinent existiere nicht. Die sogenannten Gelehrten dachten, es müsse ihn geben, die Landmassen im Norden müßten doch durch entsprechende Massen am anderen Ende der Erde im Gleichgewicht gehalten werden. Sie hörte, wie sich der Globus unter seinen Händen drehte. Aber da sei nichts! Nichts als eiskalte See mit riesigen treibenden Inseln aus Eis darin. Sturm, der das Gesicht gefrieren lasse, Wasser, das unter den Augen zu Eis erstarre. Die Segel hätten wie Metallplatten geklappert, und die Taue seien zu Eisstöcken geworden. Wenn dort, hinter den Eisbergen, Land wäre, könnte niemand dort leben und nichts dort wachsen. Eine weiße Wüste, aus der man so schnell wie möglich wegzukommen sehen müsse, bevor das Schiff zerquetscht werde.
    Sie versuchte, es sich vorzustellen, und dachte an Matrosen mit unhandlichen Fäustlingen und Strickmützen, die auf dem gefrorenen Deck ausrutschten, an die zerspringenden Taue, die ihnen aus den Händen schossen. Sie schimpften und fluchten bestimmt und wünschten sich sehnlichst, daß Befehl gegeben wurde, den Kurs nach Norden zu verlegen, wo sie die warmen Inseln wußten, bewachsen mit Palmen und blühenden Sträuchern, die behaglichen Buchten von heißem Sand gesäumt. Aber James gab sich nicht so schnell geschlagen. Sie wußte, er stand gewiß konzentriert an der Reling, hielt nach den geheimen Zeichen von Wellenschlag und Farbveränderungen des Wassers Ausschau. Ein ums andere Mal ließ er Kurs auf den gefrorenen Süden nehmen, gegen jedermanns Wunsch, er wollte weiter segeln, als je ein Mensch gesegelt war, er würde sich nur durch das Unmögliche davon abhalten lassen. Bestimmt war er frohgemut, im Gegensatz zu seinen Matrosen; die Stubengelehrten zu übertrumpfen, die aufs Geratewohl Kontinente auf der Weltkarte einzeichneten, ohne je gesehen oder vermessen zu haben, was sie mit ihren Sticheln eingravierten, bereitete ihm Freude.
    Das Gespräch in ihrem Rücken war verstummt. Sie reckte sich und trug die Schüssel Johannisbeeren in die Küche.
    Gemeinsam gingen sie durch den Garten hinaus; er öffnete das Gartentor und ließ sie vorangehen. Es war nichts geschehen an diesem Tag, keine Boten, keine Briefe, keine Besucher. Die träge Windstille hielt an, noch ein Weilchen. Schweigend spazierten sie zum Fluß. Sie merkte, daß es ihr nicht gelang, Gleichschritt mit ihm zu halten, seine Schritte waren zu groß. Am Ufer blieben sie stehen. James zeigte zum Admiralitätsgebäude auf der anderen Flußseite hinüber. »Sie konferieren, die Herren«, sagte er. »Ich werde befördert. Darum kommen sie nicht herum.«
    Sie nickte. Natürlich ließen sie ihn in den höchsten Kapitänsrang aufrücken. Und auch alle Besatzungsmitglieder, über die er eine günstige Beurteilung geschrieben hatte, würden in der Schiffahrtshierarchie aufsteigen. Er brauchte nicht mehr um seine Position zu kämpfen, sondern war zum glanzvollen Aushängeschild der Admiralität geworden. Sie würden ihm jeden Gefallen tun.
    Nichts sagen jetzt. Laß die Dinge ihren Lauf nehmen und schau es dir an. Palliser würde ihr helfen. Ein hoher Posten an Land? Ehrenvolle Entlassung mit großzügiger Pension? Sie hielt den Mund. James wandte sich ihr zu und nahm ihre Hand. Langsam liefen sie am Wasser entlang, in vollendetem Gleichtakt.
    Schon bald hatten sie die Paläste von Greenwich hinter sich gelassen und liefen

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